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Wirecard: The Walking Debt

Veröffentlicht: 01.07.2020 | Geschrieben von: Michael Pohlgeers | Letzte Aktualisierung: 01.07.2020
Wirecard - Money not found

Die deutsche Finanzszene ist in Aufruhr. Denn der Wirecard-Skandal betrifft nicht nur das inzwischen insolvente Unternehmen aus Aschheim bei München: Selbst die deutsche Finanzaufsicht Bafin wird in ihren Grundfesten erschüttert. Der Wirecard-Skandal ist – nach allem was bekannt ist – das Ergebnis eines beispiellosen Systemversagens in der Finanzszene.

Die Bafin, die bereits vor über einem Jahr von der Financial Times auf Umstimmigkeiten bei Wirecard hingewiesen wurde, hat die Warnungen offenbar nicht ernst genommen. Stattdessen verklagte die Behörde die Journalisten, weil sie vermutete, dass diese mit ihrem Bericht den Aktienkurs zugunsten von Spekulanten beeinflussen wollten. Die Wirtschaftsprüfer von EY, die jahrelang die Bilanzen von Wirecard testiert hatten, waren ebenfalls nicht auf den Betrug aufmerksam geworden, den sie heute als weltweit und umfassend bezeichnen. Und auch die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR), die die Unstimmigkeiten untersuchen sollte, versagte offenbar auf ganzer Linie: Sie soll nur einen Mitarbeiter an die Aufarbeitung des Falles angesetzt haben.

Rückblickend betrachtet, erinnert der ganze Ablauf schon ein wenig an die überheblich-arroganten Wissenschaftler in jedem guten Zombie-Film, die die Warnung vor den möglicherweise verheerenden Folgen ihres Handelns nicht ernstnehmen. T-Virus? Alles nur halb so wild! Kein genauer Nachweis über einen Milliarden-Betrag in der Bilanz? Wird schon irgendwie passen!

Wollten die Behörden die Unstimmigkeiten nicht sehen?

Warum das 1,9 Milliarden große Loch in der Wirecard-Bilanz so lange und trotz aller Warnungen nicht auffiel, ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht ganz klar. Vertraut man weiter auf die Kompetenzen der zuständigen Stellen, mag man der Erklärung von EY Glauben schenken: Der Betrug war derart tiefgreifend und umfassend, dass einfach alle getäuscht wurden. Dann steht aber die Frage im Raum, wieso die Hinweise der Financial-Times-Journalisten einfach in den Wind geschlagen, beziehungsweise sogar als vorsätzliche Kursmanipulation ausgelegt, wurden. 

Die aktuelle Situation lässt aber auch den Schluss zu, dass die Bafin, die DPR und die Wirtschaftsprüfer von EY die Verfehlungen von Wirecard lange nicht sehen wollten. Schließlich handelte es sich bei Wirecard um einen der größten Dax-Stars, die Deutschland in jüngster Zeit hervorgebracht hat. Mittlerweile hat EY sogar die Bilanz von 2018 in Zweifel gezogen – Wirecard dürfte also schon länger ein wandelnder Toter gewesen sein, als zunächst bekannt war. 

Und jetzt haben wir es mit dem ersten Dax-Zombie zu tun, wie der Spiegel schreibt: Wirecard ist insolvent und wird voraussichtlich im September aus dem Aktienindex fliegen, wenn die Börsenindizes regulär überprüft werden. Bis dahin wird das Unternehmen, dessen Aktie mittlerweile auch zum Zockerpapier wurde, weiterhin sein lebloses Dasein im Dax fristen.

Kunden und Händler dürfen nicht die Leidtragenden werden

Bleibt zu hoffen, dass dieser Zombie-Vorfall keine allzu starken negativen Konsequenzen für die Kunden und Händler haben wird. Sie dürfen nun nicht zu den Leidtragenden des Systemversagens werden. In Großbritannien waren Kreditkarten von bestimmten Fintechs, die mit der Wirecard-Tochter WCS gearbeitet haben, zeitweise nicht nutzbar. Die Finanzaufsicht hatte den Geschäftsbetrieb der Wirecard-Tochter untersagt. In Deutschland sieht es bislang so aus, als würde ein solcher Fall vorerst nicht eintreten. Die Wirecard Bank ist jedenfalls nicht von der Insolvenz der Muttergesellschaft betroffen.

Was die Bafin und alle anderen Kontrollorgane angeht: Hier stehen die Prozesse nun richtigerweise auf dem Prüfstand. Die Bafin muss sich vor Abgeordneten des Bundestag-Finanzausschusses erklären, der Vertrag mit der DPR wurde vom Bund gekündigt. Und auch die Wirtschaftsprüfer von EY werden aus dem Wirecard-Skandal hoffentlich ihre Schlüsse ziehen. Denn während ihnen der Betrug nicht auffiel, kamen die Journalisten der Financial Times ihm auf die Schliche. Die jetzige Situation wäre also vermutlich vermeidbar gewesen.

Über den Autor

Michael Pohlgeers
Michael Pohlgeers Experte für: Marktplätze

Micha gehört zu den „alten Hasen“ in der Redaktion und ist seit 2013 Teil der E-Commerce-Welt. Als stellvertretender Chefredakteur hat er die Themenauswahl mit auf dem Tisch, schreibt aber auch selbst mit Vorliebe zu zahlreichen neuen Entwicklungen in der Branche. Zudem gehört er zu den Stammgästen in unseren Multimedia-Formaten, dem OHN Podcast und unseren YouTube-Videos.

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