Interview mit Tobias Kargoll, Chef der Hiphop-Agentur „The Ambition“

„Hiphop ist wahnsinnig erfolgreich, anpassungsfähig – und kann verkaufen“

Veröffentlicht: 23.06.2021 | Geschrieben von: Redaktion | Letzte Aktualisierung: 24.06.2021
Hiphop Breakdancer

Hiphop fürs eigene Marketing nutzen – das erfreut sich im Handel bereits einiger Beliebtheit: Aldi Süd rappte mit der „Konkurrenz“ aus dem Norden um die tiefsten Preise und dichtete mal eben den bekannten Hit von Vanilla Ice „Ice Ice Baby“ in „Preis Preis Baby“ um, der Hiphop-Künstler Eko Fresh betreibt seinen eigenen Lieferdienst und Online-Modehändler About You holte für ein Launch-Event mit Sportartikelhersteller Reebok Hiphop-Artist Kelvyn Colt ins Boot. Edeka nahm das Rap-Thema in seinem Werbespot für Auszubildende unter dem sprechenden Namen „Eh dikkah“ sogar schon auf die Schippe –  verknüpft mit der Hoffnung, dass dies gar der „letzte Werberap aller Zeiten“ sei. 

Das wäre allerdings das Aus eines sehr kreativen und lukrativen Geschäftsbereichs, dem sich die beiden Gründer und Geschäftsführer Phillip Böndel und Tobias Kargoll der Hiphop-Marketing-Agentur „The Ambition“ verschrieben haben – und derartige Kampagnen möglicherweise ganz anders aufgezogen hätten. Sie beraten Unternehmen dazu, wie Musikkultur und Werbung authentisch zusammengehen: „Wir haben uns intensiv damit beschäftigt, wie Cultural Marketing in der Hiphop-Kultur funktioniert und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass die Welt keine weitere Agentur braucht, die einen Kreativen hat, der ,auch schon lange Rap hört‘. Es gibt mittlerweile massenhaft Hiphop-Cases – fast alle sind kontraproduktiv“, erklärt Tobias Kargoll im Gespräch mit OnlinehändlerNews. Was also fehlte, war ein Beratungsunternehmen, „das die Kultur in Tiefe verständlich machen kann, das eine gangbare Route aufzeigt und Unternehmen begleitet“.  

Welche Potenziale das Musikgenre für Marketing im Handel hat, warum beides sehr gut zueinander passt und was es zu beachten gilt, wenn man die Hiphop-Kultur authentisch für Werbung nutzen will, verrät Tobias Kargoll im Interview.

„Der große Unterschied zu Pop ist die Glaubwürdigkeit“

OnlinehändlerNews: Wie hat es Hiphop überhaupt in die Handelsbranche geschafft?

Tobias Kargoll: Unternehmergeist liegt in der DNA der Hiphop-Kultur – aus Notwendigkeit! Seit dem Beginn in den Siebzigern in New York ging es für Hiphop darum, etwas aus dem Nichts zu erschaffen. Hiphop heißt, sich von verschlossenen Türen nicht entmutigen zu lassen. Hiphop heißt: „Wenn es sonst keiner macht, mache ich es selbst.“ Zu Anfang veranstaltete man eigene Partys, entwarf eigene Kleidung. Dann gründete man eigene Plattenfirmen. Designer begannen, eigene Modemarken zu etablieren. Aus der Kultur und für die Kultur. FUBU [bekannte Hiphop-Marke, Anm. d. Red.] trug das schon im Namen: Das Akronym steht für „For us by us“. Rapper begannen dann, ihre Bekanntheit auch für andere Produkte zu nutzen. Schließlich wurde Dr. Dre durch die „Beats by Dre“-Kopfhörer der erste Hiphop-Milliardär. 

Unternehmertum ist also keine zufällige Nebenbeschäftigung, sondern geht aus der Kunst hervor. Unternehmerischer Erfolg ist Selbstermächtigung und wird im Hiphop respektiert und bewundert.

Warum nutzen ausgerechnet jetzt Firmen diese Kultur für ihr Marketing? Was kann Hiphop, was zum Beispiel klassische Musik oder Popsongs nicht können?

Zum einen ist Hiphop wahnsinnig erfolgreich und bestimmt die populäre Kultur unserer Zeit. Rapper setzen Streaming-Rekorde, Streetwear-Designer Virgil Abloh verantwortet die Kollektion von Louis Vuitton und designt für Ikea, Banksy ist der berühmteste Künstler unserer Zeit. In den USA ist Unternehmen schon lange bewusst, welche Marketingmöglichkeiten darin liegen. In Deutschland kam das in den letzten Jahren an.

Zum anderen kann Hiphop verkaufen. Im Hiphop kommuniziert man über Produkte, sie symbolisieren, wo man herkommt oder was man erreicht hat. Rapper haben schon Cognacflaschen in die Kamera gehalten, bevor man sie dafür bezahlt hat. Ein Violinist kann nicht genau so authentisch Produkte und Kunst verbinden, seine Kunst kommt aus einer vorkapitalistischen Zeit, Hiphop ist dagegen ein Kind der Marktwirtschaft. 

Der große Unterschied zu Pop ist die Glaubwürdigkeit. Pop ist das was bleibt, wenn man bei populärer Kultur die Kultur streicht. Ohne diesen Referenzrahmen sind Produktplatzierungen nur noch Werbung.

„Zusammenarbeiten sind gut, wenn Marke und Künstler gemeinsam etwas Neues kreieren“

Für welche Unternehmen eignet sich Hiphop zum Bewerben der eigenen Produkte besonders, für welche eher nicht so?

Man kann das nicht an Branchen oder Produktgruppen festmachen. Es kommt vor allem darauf an, ob sich in der DNA der Marke etwas findet, das an Hiphop anknüpfen kann. Welche Rolle kann die Marke in der Kultur spielen, ohne sich verstellen zu müssen? Eine Marke kann Anfang oder Ende der klassischen Story vom Tellerwäscher zum Millionär symbolisieren. Mercedes steht für das Erreichen von Zielen, das passt zur Ambition der Kultur. Airwaves, Fanta oder ein Motorroller symbolisieren, wo man herkommt. Andere finden den Anknüpfungspunkt im Wettbewerbscharakter der Kultur oder in der hohen Bedeutung, die kreativer Ausdruck für Hiphop hat.

Können Sie ein Beispiel für eine sehr gut gelungene Kampagne nennen?

In den USA war die Kollaboration von Travis Scott und McDonald’s sehr erfolgreich. Der Künstler konnte nicht nur sein eigenes Menü bestimmen, sondern auch viele Details der Kampagne, was sie glaubhafter machte. Erst dadurch konnte aus dem Bestellen des Menüs im Drive Thru ein Meme werden. Dazu gab es eine Streetwear-Kollektion. Die Zusammenarbeit wurde ein popkulturelles Event.

Generell sind Zusammenarbeiten dann gut, wenn Marke und Künstler gemeinsam etwas Neues kreieren. Es muss aber nicht immer so groß sein: Zum Beispiel hat der deutsche Süßigkeitenhändler House of Sweets durch Kollaborationen mit Rappern ebenfalls eine beeindruckende Story produziert. Dann gab es Capital Bras Erfolgspizza „Gangstrella“. Und jetzt kommt Shirin Davids Eistee „Dirtea“.

Hiphop ist nicht gleich Hiphop – sondern sehr vielseitig

Welche Zielgruppe lässt sich damit besonders gut ansprechen?

Hiphop ist eine von Jugend geprägte Kultur, umfasst aber mittlerweile mehrere Generationen. Die Generation X brachte Hiphop nach Deutschland, mit Millennials wurde sie groß, von der Gen-Z identifizieren sich laut Boston Consulting Group 42 Prozent mit Hiphop. Wenn man den Fokus auf eine Kultur statt auf eine Generation legt, kann man deutlich mehr Menschen authentisch erreichen. 

Sich dafür zu entscheiden, organischer Teil von Hiphop-Kultur werden zu wollen, ist aber erst der erste Schritt. Wir unterteilen die deutsche Hiphop-Landschaft in unserer Beratungstätigkeit in 14 Milieus. Alle teilen dieselbe DNA, in den Einstellungen und Verhaltensweisen gibt es aber viele Unterschiede. Es gibt viele selbstbewusste, progressive Frauen im Hiphop, die Hedonismus und Feminismus verbinden. Es gibt die „Dreamer“, die konservative Familienwerte schätzen und sehr aufstiegsorientiert sind. Es gibt politisierte Milieus und mehr oder weniger luxusorientierte Gruppen. Es ist wichtig, zu verstehen, dass Hiphop nicht gleich Hiphop ist. 

Besteht nicht auch die Gefahr, mit solcher Werbung vor allem die ältere, weniger Hiphop-affine Generation zu verprellen?

Ich denke, das Risiko für Marken liegt eher darin, die aktuelle Generation nicht für sich zu gewinnen. Das ist aber kein Widerspruch. Es geht nicht darum, die eigene Markenidentität aufzugeben. Wenn man sich als Hiphop verkleidet, stößt das Ältere ebenso ab wie Jüngere. Die Marke bleibt sie selbst und findet heraus, wie sie der Kultur ein Angebot machen kann. Rolex, Mercedes, Gucci, McDonald’s und Fanta funktionieren auch gerade deshalb in der Hiphop-Kultur, weil sie sind, wer sie sind. Authentizität steht über allem. 

„Menschen merken, wenn man sie verarschen will“

Was sollten Unternehmen beachten, die sich in die Hip-Hop-Kultur wagen, was ist bei der Zusammenarbeit mit den Künstlern beispielsweise wichtig? Und wie schafft man letztlich den Spagat zwischen einer rein verkaufsfördernden Marketing-Aktion und Authentizität?

Kulturen sind lebendige Gebilde. Man hat es mit Menschen zu tun – und die merken, wenn man sie verarschen will. Man muss eine Kultur verstehen, den Platz für die eigene Marke identifizieren und sich langfristig committen [sich bekennen, Anm. d. Red.] – sonst bleibt man ein Tourist. Mit vereinzelten Aktionen, die nicht Teil eines größeren Plans sind, bekommt man im besten Fall kurzzeitig Reichweite und Visibility.

Wahrscheinlicher ist, dass man in Fettnäpfchen tritt, weil man die Codes der Kultur nicht versteht. Dann macht man sich lächerlich oder erzeugt Wut, weil sich die Menschen in der Kultur ausgenutzt fühlen. Jede Aktion muss das Ziel haben, Cultural Credibility aufzubauen. Die trägt einen dann nachhaltig. Sich organisch verwurzeln bedeutet, dass das, was man gepflanzt hat, „von alleine“ weiter wächst. Darin liegt die Magie des Cultural Marketing.

Sehen Sie die Gefahr, dass Hiphop irgendwann wieder ganz aus der Werbung verschwindet?

Ich arbeite seit 15 Jahren in der Hiphop-Kultur und bekomme ebenso lange diese Frage gestellt. Hiphop ist mehr als Rapmusik, Hiphop ist Streetwear, Sneaker Culture, Graffiti, Streetart, Streetdance – eine Kultur, die seit 40 Jahren existiert. Dass Hiphop so lange und so breit gefächert erfolgreich ist, liegt an der Anpassungsfähigkeit der Kultur. Die wird in zehn Jahren wieder völlig anders aussehen, aber immer noch dieselbe DNA in sich tragen und immer noch da sein. 

Vielen Dank für die Einblicke!  


Über Tobias Kargoll & Phillip Böndel

Phillip Böndel & Tobias Kargoll  / Bild: The Ambition

Die beiden „The-Ambition“-Geschäftsführer kennen sich von ihrer gemeinsamen Zeit beim Portal Hiphop.de, zwischenzeitlich aber trennten sich ihre beruflichen Wege: Phillip Böndel wechselte ins Künstlermanagement und war u. a. für Eko Fresh und Kool Savas tätig, landete schließlich in der Werbebranche und wurde Geschäftsführer der Kreativagentur „BUTTER.“ und Vorstand des Gesamtverband Kommunikationsagenturen GWA e. V.

Tobias Kargoll wurde Videomoderator und Chefredakteur bzw. schließlich Herausgeber von Hiphop.de, fokussierte sich auf Brand Cooperations und wurde Uni-Dozent. Beide machten auch einen gemeinsamen Podcast beim Handelsblatt. Schließlich entschlossen sie sich, gemeinsam ein Beratungsunternehmen zu gründen. Ihre Recherchen, Marktforschung und Gespräche mit Vertretern aus der Kultur finden sich auch im eigenen Buch: „Erfolgsformel Hip-Hop: Ambition und Underdog-Mindset als Businessfaktor“. Es soll im Oktober erscheinen.

Interview & Text: Corinna Flemming & Hanna Behn

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