Lobbyismus

Was war zuerst da: Der Verbraucher oder der Verbraucherschutz?

Veröffentlicht: 28.09.2020 | Geschrieben von: Yvonne Bachmann | Letzte Aktualisierung: 28.09.2020
Mann wehrt sich gegen Pfeile

Sucht man über Google nach dem Stichwort Verbraucherschutz, erhält man sage und schreibe 8.100.000 Ergebnisse, die Suche nach Händlerschutz bringt es übrigens nur auf schlappe 37.500 Ergebnisse. Aber sei es drum. Auch ohne diese Zahlen hätte wohl jeder gewusst, dass das Thema Verbraucherschutz in Deutschland und der EU groß geschrieben wird, bildet es doch die Grundlage für unzählige Rechte wie dem Widerrufsrecht, den erleichten Beweispflichten im Gewährleistungsrecht und eben auch den uferlosen Informationspflichten, die den Online-Handel plagen.

Dass es zahlreiche schwarze Schafe gibt, die Verbraucher ausnutzen und betrügen, ist keinesfalls hinzunehmen und schadet einem fairen Wettbewerb und besonders dem Online-Handel. Unsere Redaktion sowie der Händlerbund sprechen sich daher ausdrücklich gegen die Machenschaften der schwarze Schafe und für einen fairen und transparenten Wettbewerb aus. Dies soll in diesem Beitrag jedoch nicht das Thema sein, sondern vielmehr der mündige und informierte Verbraucher, dessen Schutz offenbar einer der höchsten Güter ist. Wer ist er, dieser Verbraucher und muss er wirklich vor allem und am meisten vor sich selbst geschützt werden?

Abmahnung = Verstoß gegen Verbraucherrecht

Gerade erst berichtete eine Händlerin auf einer Messe, dass sie nach der ersten Abmahnung mit Kosten in Höhe von rund 1000 Euro einfach keine Lust auf den Online-Handel mehr hatte und diesen umgehend eingestellt hat. Verständlich. Wie den meisten bekannt ist, befinden sich Online-Händler in der Tat sehr häufig in einem Rechtsstreit. Meist geht es dabei nicht etwa um Streitigkeiten zwischen Händlern und Kunden direkt, sondern um Abmahnungen, die letztendlich im Namen der Verbraucherrechte ausgesprochen werden, weil der Händler Verbraucher angeblich in die Irre geführt werden.

Grund dafür ist, dass der überwiegende Teil der Abmahnungen wettbewerbsrechtlicher Natur ist. Aber was heißt das? Bei Wettbewerb soll es doch um die Konkurrenten untereinander gehen? Ja, aber… Das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (kurz: UWG), was die Grundlage für einen überwiegenden Teil der Abmahnungen ist, hat jedoch noch einen großen, sehr wichtigen Zweck: Das UWG dient dem Schutz der Mitbewerber, der Verbraucher sowie der sonstigen Marktteilnehmer vor unlauteren geschäftlichen Handlungen. Das Verbot der unlauteren geschäftlichen Handlungen als Abmahngrund legt den Fokus auf den Verbraucherschutz. Geschäftliche Handlungen, die sich an Verbraucher richten oder diese erreichen, sind also unlauter, wenn sie nicht der unternehmerischen Sorgfalt entsprechen und sie geeignet sind, das wirtschaftliche Verhalten des Verbrauchers wesentlich zu beeinflussen.

Unlauter handelt, wer einer gesetzlichen Vorschrift zuwiderhandelt, die auch dazu bestimmt ist, im Interesse der Marktteilnehmer das Marktverhalten zu regeln, und der Verstoß geeignet ist, die Interessen von Verbrauchern, sonstigen Marktteilnehmern oder Mitbewerbern spürbar zu beeinträchtigen. Die in der sog. schwarzen Liste des UWG aufgeführten geschäftlichen Handlungen gegenüber Verbrauchern sind sogar stets unzulässig. Diese sehr rechtlichen Ausführen bedeuten aber nichts anderes als: Verbraucher dürfen nicht durch gewiefte Handlungen, z. B. durch irreführende Werbung, zum Kauf verleitet werden.

Wer oder was ist ein Verbraucher?

Aber wer oder was ist nun dieser sog. Verbraucher, den man hier schützen will? Antwort auf die Frage gibt zunächst ein Blick ins Gesetz. Jeder Jurastudent wird bereits in der ersten Vorlesung mit diesem Paragrafen vertraut gemacht: Verbraucher ist jede natürliche Person, die ein Rechtsgeschäft zu Zwecken abschließt, welche überwiegend weder ihrer gewerblichen noch ihrer selbständigen beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden können. Die juristische Kommentierung schreibt zur Daseinsberechtigung dieses Paragrafen, dass der Verbraucherschutz zu einem wesentlichen Schutzprinzip des bürgerlichen Rechts geworden sei (Palandt, § 13, Rn. 2). Die Verbraucher werden deshalb als eine zu Unternehmern typischerweise unterlegene Marktgruppe durch eine Vielzahl von Vorschriften und Maßnahmen geschützt.

Maßstab ist Otto Normalverbraucher: Bei der Beurteilung von geschäftlichen Handlungen gegenüber Verbrauchern ist stets auf den durchschnittlichen Verbraucher oder, wenn sich die geschäftliche Handlung an eine bestimmte Gruppe von Verbrauchern wendet, auf ein durchschnittliches Mitglied dieser Gruppe abzustellen. 

Und was sagen die Verbraucherschützer selbst?

Tatsächlich haben wir die gefragt, die es am besten wissen müssen: Das sind die Verbraucherschützer und Verbraucherverbände. Wie definieren sie den Verbraucher und warum ist er so schutzbedürftig? „Lange Zeit ging die Politik von dem ‚mündigen‘ Verbraucher aus, der nur gut informiert sein muss, um die richtige Entscheidung treffen zu können. Aber unsere Entscheidungen hängen nicht nur von ausreichenden Informationen ab, sondern werden von zahlreichen weiteren Aspekten beeinflusst: Emotionen, Zeitdruck, persönliche Vorlieben”, so Jutta Gurkmann, Juristin und Leiterin des Geschäftsbereichs Verbraucherpolitik im Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv). 

Das „Differenzierte Verbraucherleitbild“, das unterschiedliche Typen definiert, sei daher treffender. Es beinhalte den „Verletzlichen Verbraucher“, den „Vertrauenden Verbraucher“ und den „Verantwortungsvollen Verbraucher“, so die vzbv-Expertin weiter. „Dieses Verbraucherleitbild definiert nicht nur verschiedene Typen, es differenziert auch danach, in welcher Situation und in welchem Markt der Verbraucher sich gerade befindet. So sind sehr junge Verbraucher nicht in jeder Situation verletzliche Verbraucher. Im Bereich der digitalen Welt können sie genauso gut auch vertrauende oder sogar verantwortungsvolle Verbraucher sein.”.

Das zeigt noch einmal, dass sich das Verständnis für den Verbraucherschutz durchaus auch wandeln kann, beispielsweise durch die zunehmende Digitalisierung. „Während in der Vergangenheit davon ausgegangen wurde, dass mündige Verbraucherinnen und Verbraucher in erster Linie genügend Informationen brauchen, um sich rational und nutzenmaximierend verhalten zu können, weiß man heute, dass es DIE Verbraucherin oder DEN Verbraucher gar nicht gibt.”, so der Sprecher des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz, Maximilian Kall. 

Die Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken (kurz: UGP-RL), die überwiegend im UWG (s.o.) umgesetzt ist, spreche in ihren Erwägungsgründen nicht vom „mündigen und informierten Verbraucher“, sondern vom „Durchschnittsverbraucher, der angemessen gut unterrichtet und angemessen aufmerksam und kritisch ist“, so Kall zum modern Verbraucherbegriff.

Der Unternehmer-Verbraucher

Nichtsdestotrotz unterscheidet der Verbraucherbegriff aber doch nicht nach der individuellen Situation eines jeden, wie es die Verbraucherschützer andeuten. Es macht rechtlich gesehen keinen Unterschied, ob ein Fachanwalt für IT-Recht oder ein älterer Mensch ohne Schulabschluss im Internet einkauft. Sind im Himbeer-Vanille-Tee keine Himbeeren und keine echte Vanille (und keine Hasen) enthalten, wird eine breite Masse vielleicht getäuscht. Aber eine gewisse Differenzierung ist doch wünschenswert.

Jeder von uns, und die meister Online-Händler sind nun einmal Gewerbetreibende, haben auch ein Leben nach Dienstschluss. Dann sind sie wie jeder andere auch nur Privatmann oder -frau, und eben Verbraucher. Das gilt sowohl für Angela Merkel, als auch für Oliver Samwer, als auch für Susanne Klatten (Auch Niko Rosberg muss im Übrigen einen Führerschein machen, auch wenn er vermutlich auch so heil durch den Straßenverkehr käme.). Trotz ihres Geschäftssinnes werden sie rechtlich gesehen, nun ja, sagen wir mal als schützenswert, angesehen. Sie bestellen online, sie haben ein Widerrufsrecht. Sie trinken den himbeerlosen Tee und erwarten nicht anderes als ... himbeerlosen Tee.

Verbraucherschutz versus Vertragsfreiheit

Erst ganz aktuell hat sich wieder gezeigt, wie stark das Kräftemessen der Lobby der Verbraucher und der Unternehmen ist und wie das die Grundpfeiler der Wirtschaft wie etwa die Vertragstreue wieder ins Wanken bringen kann. Verträge sind bindend und zu halten. Eine Ausnahme, die zum Online-Handel gehört wie das Amen in der Kirche ist das gesetzliche Widerrufsrecht. Hinzu kommen unzählige Informationspflichten, die bis auf wenige Ausnahmen den Verbraucherschutz bezwecken und gegenüber gewerblichen Einkäufern nicht gelten.

Paradebeispiel für Verbraucherschutz gegen Händlerschutz sind die abgesagten Konzerte in der Coronakrise: Eine Verschiebung einer Veranstaltung müssen Verbraucher grundsätzlich nicht hinnehmen. Möchten sie die Karte zurückgegeben, können sie Eintrittspreis, Vorverkaufsgebühren sowie Versandkosten zurückverlangen. Denn im Falle einer Absage kommt der Veranstalter seiner Leistungspflicht nicht nach. Punkt. Dennoch ist aktuell der Gesetzgeber in diese Vertragsfreiheit reingegrätscht. Auch die EU hat bereits Kritik geübt und die Beschneidung der Verbraucherrechte kritisiert. Eine Gutschein-Lösung, wie sie in Deutschland beschlossen wurde, sei ein Eingriff in die Vertragsfreiheit.

Verbraucherschutz in der Rechtsprechung

Ist ein Grund für den uferlosen Verbraucherschutz vielleicht auch in der Rechtsprechung zu suchen? Einen Versuch ist es wert. Ein kleines Beispiel aus der Praxis: Online-Händler sind verpflichtet, auf ihren Webseiten einen Link zur Online-Streitbeilegungsplattform zur Verfügung zu stellen, damit die Lösung von Rechtsstreitigkeiten von Verbrauchern ganz einfach über diese Plattform angestoßen werden kann. Dies ist insoweit unproblematisch. In den letzten Jahren haben jedoch zahlreiche Gerichte geurteilt, dass diese Webadresse auch anklickbar (Hyperlink) sein muss und der bloße Hinweis nicht ausreicht. Grund ist, dass der Verbraucher es so einfach wie möglich haben soll und ihm nicht zugemutet werden kann, sich den Link selbständig in sein Browserfenster zu kopieren. Wer den Link also nicht anklickbar auf seiner Webseite bereithält, handelt unlauter, weil er einer gesetzlichen Vorschrift zuwiderhandelt (der ODR-Verordnung) und der Verstoß geeignet ist, die Interessen von Verbrauchern spürbar zu beeinträchtigen. Dieser Verstoß ist den Gerichten auch gern mal über 1.000 Euro Abmahngebühren wert.

Dies ist sinnbildlich dafür, wie weit der Verbraucherschutz gehen kann und mit welchen Gerichtsentscheidungen Händler in der Folge konfrontiert werden können. Der mündige Verbraucher soll zwar ermuntert werden, im Netz zu bestellen. Den Link selbst kopieren und aufrufen? Das wäre wohl zu viel des Guten! Da fragt sich tatsächlich der eine oder andere, was zuerst da war, der Verbraucher oder der Verbraucherschutz und wie weit Verbraucherschutz wirklich gehen muss…

Nicht zuletzt muss man also auch das durchschnittliche Alter der Richter mit einbeziehen, wenn es um die Entwicklung des Verbraucherschutzes geht. Laut dem Statistikportal Statista betrug das Durchschnittsalter bei Richtern und Staatsanwälten in Österreich im Jahr 2018 47,4 Jahre. Für deutsche Richter liegt uns derzeit keine verlässliche Größe vor, die Altersstruktur ist jedoch ähnlich. „Die völlig ungesunde Altersstruktur fällt uns jetzt auf die Füße“, sagte jedoch Holger Pröbstel, der Vorsitzender Richter am Landgericht Erfurt und Vorsitzender des Deutschen Richterbundes in Thüringen ist, gegenüber dem Focus im vergangenen Jahr. „Bis zum Jahr 2031 werden bundesweit etwa 11.700 unserer rund 28.400 Richter und Staatsanwälte in den Ruhestand gehen, das sind rund 41 Prozent“. In den neuen Bundesländern verliere die Justiz bis dahin 62,5 Prozent aller Richter und Staatsanwälte aus Altersgründen, also fast zwei Drittel des gesamten Personals.“

Nun liegt es nicht fern, diesen Richtern neben einem gewissen Alter auch eine gewisse Skepsis gegenüber dem Neuen und vor allem Digitalen zu unterstellen. Es kann also nicht als gerichtsbekannt angenommen werden, wie der Hase bei Amazon oder Ebay läuft. Auch zuletzt mussten die Richter eines Finanzgerichts eingestehen, dass das Thema Kryptowährungen völliges #Neuland sei. Kall stimmt zu: „Fraglos stellt die Digitalisierung auch die Justiz vor große Herausforderungen.”.

Wer schützt Händler vor Verbrauchern?

Zunächst einmal muss man festhalten: Viele Verbraucher kenne ihre Rechte, die ihnen von einer starken Lobby im Gesetzgebungsverfahren zugestanden wurden, gar nicht. Zudem sieht man sich als Verbraucher manchmal einfach nicht in der Lage, etwas gegen große Unternehmen auszurichten. Der Ökonom Mark Armstrong betont, dass zu starker Verbraucherschutz zu Moral Hazard (also einer Art kalkuliertes Risiko) führen kann, denn er senkt die Anreize für Verbraucher, selbst auf sich zu achten, weil man ja eh widerrufen/künden o.ä. kann, wenn man nur laut genug schreit oder mit einer negativen Bewertung droht.

Tatsächlich gibt es auch andere Kunden. Kunden, die mit übergroßer Retourenquote oder Warenbetrug glänzen können und ihre Rechte bewusst oder unbewusst ausnutzen. Getreu dem Motto „Der Kunde ist König“ schlucken die Händler ihren Frust herunter und machen gute Miene zum bösen Spiel. Doch das Thema Betrug durch Verbraucher rückt im Online-Handel immer mehr in den Fokus.

Der Verbraucher in zehn Jahren

Wie das Kräftemessen zwischen einem angemessenen Verbraucherschutz weitergehen wird, ist offen. Die Entwicklung des Verbraucherbildes hänge auch davon ab, an welchem Verbraucher-Leitbild sich die Politik in den nächsten Jahren orientieren wird, sagte uns Jutta Gurkmann in unserer Anfrage. „Viele Parteien haben schon Abstand von dem eher antiquierten Bild des „mündigen“ Verbrauchers genommen und versuchen, die Erkenntnisse der Verbraucherverhaltensforschung bei der Planung neuer Gesetzvorhaben zu berücksichtigen.”

„Zukünftig – insbesondere auch im Zuge zunehmender Digitalisierung -  ist davon auszugehen, dass sich die Rollen von Verbraucherinnen und Verbrauchern weiter verändern.”, so Maximilian Kall. „Mit dem Aufkommen des E-Commerce, neuen Geschäftsmodellen und Marketingmethoden sind jedoch auch neue Herausforderungen für den Verbraucherschutz verbunden. (...) Eine moderne Verbraucherpolitik muss solche Entwicklungen im Blick behalten und angemessen nachsteuern. Das kann Anlass für weitere Transparenzregelungen und Informationspflichten sein, wie sie zum Beispiel in der so genannten Modernisierungsrichtlinie für Plattformen und Bewertungsportale vorgesehen sind und derzeit durch das BMJV umgesetzt werden.”.

Über die Autorin

Yvonne Bachmann
Yvonne Bachmann Expertin für: IT-Recht

Yvonne ist schon seit Beginn ihrer juristischen Laufbahn mit Leib und Seele im IT-Recht unterwegs. Seit Anfang 2013 ist sie als Volljuristin beim Händlerbund tätig und berät dort hilfesuchende Online-Händler in Rechtsfragen rund um ihren Shop. Genausolange berichtet sie bei uns zu Rechtsthemen, welche die E-Commerce-Branche aufwirbeln. 

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