Aufgaben der EU-Akteure

So entsteht in der EU ein Gesetz für Online-Handel

Veröffentlicht: 04.09.2020 | Geschrieben von: Patrick Schwalger | Letzte Aktualisierung: 01.09.2020
Flaggen der EU und der Mitgliedstaaten

Bei der letzten Wahl des EU-Parlaments im Mai 2019 wählten in Deutschland 61 Prozent der Wahlberechtigten. Nicht zuletzt dieses Ergebnis verdeutlichte, dass der Europäischen Union in der Wahrnehmung der Deutschen derzeit im Vergleich zu den letzten 20 Jahren eine neue Relevanz zukommt. Schließlich knackte die Wahlbeteiligung in den Wahlen von 1999, 2004, 2009 und 2014 nicht einmal die 50-Prozent-Marke. 

Dennoch sind viele Deutsche nicht vertraut über die Funktionsweise der EU. Brüssel scheint fern, schrecklich bürokratisch und intransparent. Die Namen der EU-Abgeordneten und der EU-Kommissare sind hierzulande größtenteils unbekannt. 

Und das, obwohl mittlerweile ein Großteil der wichtigen Gesetze aus der EU stammt. Das ist natürlich auch im Online-Handel so. Verbraucherrechte, Datenschutz oder etwa das Verhältnis von Händlern zu Marktplätzen – hier bilden EU-Vorschriften die Grundlage des Rechtsrahmens. Um das und die EU zu verstehen, muss man ihre Prozesse und Strukturen verstehen.

Über allem thront der Binnenmarkt 

Globalisierung und Digitalisierung haben Europa so nah wie nie zuvor zusammengeführt, sodass gerade in der Wirtschaft die innereuropäischen Grenzen zunehmend an Bedeutung verlieren. Ein Verbraucher aus Deutschland kann mit ein paar Mausklicks Schuhe aus Spanien bestellen und ein Online-Händler aus Kassel kann seine Ware mühelos nach Helsinki versenden. 

Wie anstrengend es wäre, wenn Händler sich dabei an 27 verschiedene Rechtsrahmen anpassen müssten! Der europäische Binnenmarkt sorgt dafür, dass dies in den meisten Bereichen nicht nötig ist. Das EU-Recht schafft nämlich einen Wirtschaftsraum, in dem die Bedingungen für Verbraucherschutz, Umweltschutz, Datenschutz und Produktqualität so ähnlich wie möglich sind. Das spart für die Beteiligten Zeit und Geld und schafft vor allen Dingen Rechtssicherheit für einen enorm großen Raum. Bloß der Inhalt der Gesetze sorgt bei Online-Händlern öfter für Kopfschmerzen.

Der Schutz und Ausbau des Europäischen Binnenmarkts – nebenbei der größte gemeinsame Markt der Welt – ist die wirtschaftspolitische Maxime der EU. Daher sollen auch im Internet gleiche Regeln und Wettbewerbschancen gelten sowie möglichst wenig Hindernisse bestehen.

Die EU-Kommission – Wo Ursula von der Leyen präsidiert

Das Berlaymont-Gebäude im Herzen des Europäischen Viertels in Brüssel ist die Hauptzentrale der EU-Kommission und passenderweise an der Rue de la Loi (deutsch: Straße des Gesetzes) gelegen. Hier ist das Büro von Ursula von der Leyen, die als Präsidentin der Kommission den 26 Kommissaren vorsitzt. 

Die Kommissare geben die politische Richtung für die Generaldirektion (DGs) vor, die man sich als europäische Ministerien vorstellen kann und die über die Brüsseler Innenstadt verteilt sind. Insgesamt sind knapp 32.000 Menschen bei der Kommission angestellt. Zum Vergleich: In den deutschen Ministerien sind nur 18.000 Angestellte beschäftigt. 

Wer Gesetze schreibt, wird früh lobbyiert

Die Kommission kann – sehr zum Ärger der EU-Parlamentarier – als einzige EU-Institution Gesetze vorschlagen. Damit bestimmt sie die zunehmend die Agenda in Brüssel und ist ein Hauptakteur im Gesetzgebungsprozess

Wenn man hautnah und frühzeitig an der Entwicklung eines Gesetzes teilhaben will, muss man daher in den Austausch mit der Kommission treten, schließlich kann man hier von Beginn an die Grundausrichtung eines Gesetzes mitgestalten. Aus diesem Grund sind die Verantwortlichen für einen bestimmten Gesetzentwurf immer auch Ziel von starkem Lobbying. Ein bekanntes Beispiel ist die DSGVO. Jahrelang setzten die großen und kleinen Vertreter der Digitalwirtschaft die Kommission unter Druck, um das strenge Datenschutzgesetz abzuschwächen, am Ende jedoch ohne Erfolg. 

Auch wenn Lobbyismus mitunter ein anrüchiges Image hat, ist der Austausch von Verwaltung und Interessengruppen aus Wirtschaft und Gesellschaft in Brüssel wie in Berlin völlig normal und Bestandteil einer gesunden Demokratie. 

Aktuell laufen zum Beispiel öffentliche Konsultationen zum geplanten Digital Services Act. Dieses Gesetz, für das frühestens Anfang 2021 ein erster Entwurf erwartet wird, soll moderne Regeln für Online-Plattformen und Marktplätze aufstellen. Da es derzeit vorbereitet wird, holt sich die Kommission die Meinung von zahlreichen Interessenvertretern ein. Die Stimme des europäischen Online-Handels in Brüssel ist in diesem Prozess der Verband Ecommerce Europe, bei dem auch der Händlerbund Mitglied ist. Der Dachverband holt sich bei seinen nationalen Mitgliedern die jeweiligen Meinungen ein und gibt sie dann gesammelt und zusammengefasst an die Kommission weiter. Dadurch kann der Online-Handel aus ganz Europa mit einer Stimme sprechen und seine Interessen der Kommission klar verständlich und mit Gewicht präsentieren. 

Aber nicht nur über Interessengruppen holt sich die Kommission Input für ihre Gesetze. Daneben lässt sie sich auch von unzähligen Expertengruppen beim Schreiben von Gesetzen unterstützen. So war der Händlerbund über eine solche Expertengruppe auch direkt daran beteiligt, ein Gesetz zu entwerfen, dass Steuerbetrug von Händlern aus EU-Drittstaaten wie China nachhaltig bekämpfen soll. 

Das EU-Parlament – Ein Parlament light?

Nachdem die Kommission ein Gesetz vorgeschlagen hat, kommt es im nächsten Schritt ins Europäische Parlament. Während die Kommission (in der Theorie) als technokratisch in ihrer Arbeit wirkt und weder von nationalen oder politischen Zwängen, sondern ausschließlich von europäischen Zielen geleitet werden soll, ist das Parlament die politische Arena der EU. Hier sitzen und arbeiten die Abgeordneten nicht nach Nationalität, sondern nach Parteifamilie zusammen, und arbeiten am Gesetz je nach ihren konservativen, sozialistischen, grünen oder auch euroskeptischen Programmen.

Über die Besonderheiten dieser Kammer wurde schon viel geschrieben. Während der Großteil der Arbeit der Abgeordneten in Brüssel geleistet wird, zieht das gesamte Parlament fast jeden Monat ins über 400 Kilometer entfernte Straßburg um, wo die meisten Plenarsitzungen stattfinden. 

Untypisch für ein Parlament ist wie schon erwähnt ebenfalls, dass das Parlament keine Gesetzesinitiative hat – diese ist ausschließlich der Kommission vorbehalten. Seit Jahren kämpfen die Abgeordneten für dieses Recht, bislang jedoch erfolglos. Sie können die Kommission bloß formal dazu auffordern, gesetzgeberisch tätig zu werden. Hier besteht definitiv ein großes demokratisches Defizit der EU.

Hohe Transparenz bei hohem Pensum 

Abgesehen vom fehlenden Initiativrecht gleicht die Arbeit des EU-Parlaments aber der anderer Parlamente. Bekommt es den Gesetzentwurf von der Kommission zugesendet, haben die Abgeordneten in drei Lesungen die Möglichkeit, Änderungen einzubringen. 

Die inhaltliche Arbeit dafür findet wie in Deutschland in den Fachausschüssen statt. Diese bereiten Beschlüsse vor, die die Fraktionen dann im Plenum abnicken. Abstimmungen in den Plenarsitzungen des Parlaments sind von einem enorm hohen Pensum gezeichnet. Hunderte von Änderungsanträgen, Beschlüssen und Aussprachen geschehen hier jeden Tag. 

Die wichtigsten Parlamentsausschüsse für den Online-Handel sind der Ausschuss für Wirtschaft und Währung, der Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz (federführend beim Digital Services Act und der EU-Verbraucherrechterichtlinie), der Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (federführend bei der E-Privacy-Verordnung) und der Umweltausschuss (beschäftigt sich mit der Kreislaufwirtschaft, Verpackungsmüll und dem Umgang mit Retouren).

Trotz der enormen Menge an Dokumenten, Gesetzgebungsprozessen und Vorgängen schafft das EU-Parlament ein Maß an Transparenz für die Bürgerinnen und Bürger, das weltweit fast einmalig ist. Fast alle Sitzungen der Ausschüsse werden live im Internet übertragen. Und im „Legislative Observatory” kann man alle Dokumente, Schlüsselpersonen, Vorgänge und Abstimmungen zu allen legislativen Verfahren einsehen und abrufen. 

Die Europäischen Räte der Europäischen Union

Deutlich intransparenter geht es in der Rue de la Loi 175 zu. Genau auf der anderen Straßenseite der Kommission steht das Europagebäude, das manche Beobachter an ein Weltraum-Ei erinnert. Dieses Ei ist das Zuhause vom Europäischen Rat und dem Rat der Europäischen Union. 

Kurz erklärt: Der Europäische Rat besteht aus 27 Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten. Er hat keinerlei Funktion im Gesetzgebungsprozess, aber gibt die politische Agenda vor und dient dazu, bei wichtigen, kontroversen Themen Kompromisse zwischen den Staaten zu finden. So war es zum Beispiel beim Streit über den großen Corona-Wiederaufbaufonds. 

Der Rat der Europäischen Union, der auch EU-Ministerrat genannt wird, ist hingegen für die Gesetzgebung aktiv zuständig. Er besteht aus den 26 nationalen Fachministern der Staaten und tritt immer in anderen themenbezogenen Konstellationen zusammen. Es gibt den Rat der Wirtschaftsminister, Umweltminister, Justizminister und so weiter. In drei Lesungen müssen die Entwürfe aus der Kommission den Ministerrat durchlaufen, auch hier können Änderungen eingebracht werden. Im Gegensatz zum Parlament verlaufen die Konflikte im Rat aber nicht vordergründig entlang von Parteilinien, sondern entlang der jeweiligen nationalen Interessen der Mitgliedstaaten. 

„Die EU hat uns diese Regeln aufgedrückt!”

Ein oft zu beobachtendes Verhalten ist, die Schuld für zuhause unpopuläre Gesetze auf die EU abzuschieben. Regierungsmitglieder aus den Mitgliedstaaten greifen oft auf dieses Mittel zurück, um politische Misserfolge im Inland durch eine Schuldzuweisung nach Brüssel auszuhebeln. 

Dabei wird natürlich verschwiegen, dass die EU oder „Brüssel” gar keine Gesetze erlassen kann ohne dass die Mitgliedstaaten durch den Ministerrat erheblich daran beteiligt sind. „Die EU”, das sind auch immer die einzelnen Staaten. Natürlich gilt nicht in allen Politikbereichen die Einstimmigkeit, doch lassen sich Mitgliedstaaten oft auf Kompromisse ein, weil sie nicht auf die oftmals enorme finanzielle Unterstützung durch die EU verzichten wollen. 

Entscheidungen hinter verschlossenen Türen

Wenn sich eine Institution in der EU jedoch dem Vorwurf der Intransparenz aussetzen muss, dann der Ministerrat. Protokolle der Sitzungen der Minister, Abstimmungsergebnisse oder ähnliches sind oftmals nicht verfügbar und somit ist der Entscheidungsprozess in vielen Fällen für die Öffentlichkeit nicht nachvollziehbar. 

Auch der Ministerrat hat Expertenausschüsse, die politische Entscheidungen erarbeiten. Bevor die Minister dann aber ein Thema entscheiden, wird schon im Vorfeld im COREPER-Ausschuss (Comité des représentants permanents, dt.: Ausschuss der Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten) ein Kompromiss gesucht. Hier kommen die EU-Botschafter der Mitgliedstaaten zusammen, die sich in Brüssel und der EU viel mehr auskennen als die Minister. Meistens folgen die Minister dann den Vorschlägen, die die Botschafter ausgehandelt haben. Das führt zu einer schnelleren und besseren Entscheidungsfindung. 

Deutschland hat derzeit den Vorsitz im Ministerrat 

Alle sechs Monate übernimmt ein anderer Mitgliedstaat die EU-Ratspräsidentschaft und sitzt somit allen Sitzungen des Ministerrats vor. Aktuell liegt diese Bürde bei der deutschen Regierung. Damit ist Deutschland verantwortlich dafür, bis Ende des Jahres Themenschwerpunkte zu setzen, zu vermitteln und politische Kompromisse auszuhandeln. 

Zu den Schwerpunkten Deutschlands gehören die wirtschaftlichen Beziehungen zu China, die Wiederankurbelung der Wirtschaft nach der Coronakrise, aber auch ein Kompromiss bei der E-Privacy-Verordnung, einer großen Datenschutzinitiative. 

Was, wenn es keine leichte Einigung gibt? 

EU-Parlament und Ministerrat müssen sich im normalen Gesetzgebungsprozess einigen, damit ein Rechtstext angenommen wird. Das ist nicht immer leicht. Schließlich sieht sich das Parlament mehrheitlich als europäische Institution, die frei von nationalen Interessen agiert. Der Ministerrat ist das komplette Gegenteil, hier versuchen alle Staatsvertreter das bestmögliche für das eigene Land herauszuholen und sind vor allem auch von der innenpolitischen Zustimmung im Heimatland getrieben. Dadurch ist Streit vorprogrammiert.   

Die drei Lesungen der Gesetzentwürfe laufen in Parlament und Ministerrat parallel. In jeder neuen Runde nehmen die Institutionen die Vorschläge des jeweils anderen unter die Lupe. Das führt mitunter zu jahrelangen Verhandlungen. Um das zu beschleunigen oder um nicht lösbare Konflikte zwischen den Institutionen zu klären, treten Parlament und Ministerrat in 85 Prozent aller legislativen Prozesse in Trilog-Verhandlungen ein. 

In diesen Verhandlungen streiten sich Parlaments- und Ratsvertreter über ihre Änderungsvorschläge, während Kommissionsvertreter zwischen ihnen vermitteln. Voraussetzung dafür ist aber, dass beide Seiten jeweils eine gemeinsame Position der Institution beschlossen haben. Und das ist nicht immer einig. 

So hatte das EU-Parlament im Fall der E-Privacy-Verordnung 2017 eine Position beschlossen, die besonders datenschutzfreundlich ist. Beobachter vermuteten damals schon, dass dies für den Ministerrat zu weit gehen könnte, weil die Minister Sorge vor mehr Auflagen für ihre heimischen Industrien befürchteten. Eine Trilog-Verhandlung wäre nun das geeignete Mittel, um die Kluft zwischen Parlament und Rat zu überbrücken. Das Problem: Seit drei Jahren können sich die Mitglieder des Ministerrats untereinander nicht einigen, zu kompliziert scheint das Spannungsfeld zwischen Datenschutz und wirtschaftlichen Interessen. 2018 hätte die E-Privacy-Verordnung schon in Kraft treten sollen. Mittlerweile wird mit einer Einigung nicht vor 2021 gerechnet. 

Zurück zur Kommission, der Hüterin der Verträge

Haben Parlament und Ministerrat eine Einigung gefunden, ist der Weg für ein neues EU-Recht frei. Sobald das Gesetz im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht wurde, ist es gültig und tritt zum dort genannten Datum in Kraft. Damit ist die Arbeit von Parlament und Rat meistens abgeschlossen. Doch für die Kommission hört die Arbeit nicht auf. 

Der klangvolle Beiname der Kommission ist „Hüterin der Verträge”. Damit sind nicht nur die EU-Verträge gemeint, die die Quasi-Verfassung der EU darstellen, sondern auch die Gesetze, die erlassen werden. 

Denn nicht immer ist eindeutig, wie genau das EU-Recht in einzelnen Staaten umgesetzt werden soll. Während EU-Verordnungen unmittelbar in allen Staaten gelten, geben EU-Richtlinien nur einen groben Rahmen vor, der von den Mitgliedstaaten erst umgesetzt werden muss. 

Bei der Umsetzung und Interpretation der EU-Gesetze hilft die Kommission durch detaillierte Anhänge zu Gesetzen, in denen technische Details benannt werden und vor allem durch den Dialog mit den nationalen Behörden. So gibt es derzeit in Deutschland Streit über den Versandhandel mit verschreibungspflichtigen Medikamenten. Während in Deutschland eine Arzneimittelpreisbindung gilt, hat die EU 2016 untersagt, diese Preisbindung auch auf nicht-deutsche Versandapotheken auszuweiten. Doch abgeschafft hat die Bundesregierung die Preisbindung für ausländische Versender nie. Deswegen steht Jens Spahns Gesundheitsministerium seit Monaten mit der EU-Kommission in Kontakt, um eine Lösung zu finden, die das EU-Recht nicht verletzt. 

Wenn keine Lösung gefunden wird, greift die Kommission zu einem scharfen Schwert: dem Vertragsverletzungsverfahren. Ändert ein Mitgliedstaat seine Gesetze auch auf mehrfache Beschwerde durch die Kommission nicht, wenn sie EU-Recht verletzen, wird der Konflikt im Extremfall vor dem Europäischen Gerichtshof geklärt. Derzeit laufen 23 offene Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland. Unter anderem wird derzeit untersucht, ob die deutschen Erfassungsbescheinigungen für die Umsatzsteuer auf Online-Marktplätzen den Europäischen Binnenmarkt behindern. Und der Binnenmarkt ist  nun mal die wirtschaftspolitische Maxime der EU. 

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