Ecommerce Europe: „Nach einem Brexit gäbe es eine Zeit der Unsicherheit.“

Veröffentlicht: 16.06.2016 | Geschrieben von: Michael Pohlgeers | Letzte Aktualisierung: 16.06.2016

Bald entscheidet Großbritannien darüber, ob es Mitglied der EU bleiben will oder nicht. Die Diskussion um den sogenannten Brexit kocht immer höher, aber wie würde sich ein Austritt des Landes auf den europäischen E-Commerce auswirken? Marlene ten Ham von Ecommerce Europe hat uns einige Antworten zu dem Thema gegeben.

 Houses of Parliament und Big Ben

(Bildquelle London: Iakov Kalinin via Shutterstock)

OnlinehändlerNews: Wie würde sich ein Brexit auf die Händler im United Kingdom auswirken?

Marlene ten Ham: Die EU ist mit einem Anteil von 45 Prozent am Exportgeschäft der größte Handelspartner des United Kingdom und der grenzüberschreitende Handel ist in dem Land beliebt. 36 Prozent der britischen Kunden haben einer Studie zufolge im vergangenen Jahr Produkte online in anderen Ländern gekäuft. Deshalb könnte ein Brexit zunächst vor allem die britischen Kunden treffen. Ein möglicher Brexit könnte aber auch erhebliche negative Folgen sowohl für den britischen als auch den europäischen E-Commerce-Sektor mit sich bringen, da 20 Prozent der Online-Händler im UK grenzüberschreitend in die EU verkaufen und 6,12 Prozent des BIP von Großbritannien durch Online-Verkäufe erzeugt wird. Die westeuropäischen Märkte machen mehr als 50 Prozent der E-Commerce-Exporte im UK aus und mit dem bevorstehenden Referendum über die Mitgliedschaft in der EU, die am 23. Juni stattfindet, hat ein britischer Austritt aus der EU das Potenzial, die Zahlungsbilanz des Landes zu schwächen. Online-Händler in Großbritannien könnten mit steigenden operativen Kosten und anderen Herausforderungen konfrontiert warden, wenn sie in die EU verkaufen. Aber das alles hängt davon ab, wie das Post-Brexit-Verhandlungspaket aussehen wird. Momentan scheint das aber noch niemand erahnen zu können.

Auf der einen Seite könnte Großbritannien mit den offensichtlichen Kosten konfrontiert werden, die ein Austritt aus dem Binnenmarkt mit sich bringt. Dazu gehören höhere Zölle und Tarife und der Zugang zur Unterstützungsstruktur der EU. Zudem würde Großbritannien seinen Platz im Entscheidungsgremium der EU zu zentralen Themen des digitalen Binnenmarkts, wie etwa Geoblocking, Regulierung von Online-Plattformen, Lieferthematiken oder Payment-Optionen, aufgeben. Auf der anderen Seite müssen Kunden darauf vertrauen können, dass sie geschützt werden, wenn sie grenzüberschreitend einkaufen. Nach einem Brexit gäbe es eine Zeit der Unsicherheit für Kunden aus der EU, was Verbraucherrechte und -schutz anbelangt.

Wie würde sich der Brexit auf den Rest der Europäischen Union auswirken?

Großbritannien ist der fortschrittlichste E-Commerce-Markt in Europa und ein Vorreiter in der digitalen Wirtschaft. Dem European B2C E-Commerce Report von Ecommerce Europe und der Ecommerce Foundation zufolge führt Großbritannien in Sachen Marktgröße (157,1 Milliarden Euro) und bei den durchschnittlichen Ausgaben pro Online-Kunde (3.625 Euro). Ein Brexit hätte deshalb einen gewaltigen Einfluss auf die Ergebnisse der gegenwärtigen Pläne zum europäischen, digitalen Binnenmarkt. Großbritannien hat sich als starker Verfechter eines liberaleren Ansatzes hinsichtlich innovativer Technologien und Geschäftsmodelle wie Online-Plattformen und der Sharing-Economy hervorgetan und war ein wichtiger Akteur in der laufenden Diskussion um den digitalen Binnenmarkt. Sollte Großbritannien die Europäische Union verlassen, hätte das wahrscheinlich eine beträchtliche Machtverschiebung in den Gesetzgebungsprozessen der EU zur Folge, was dann zu einer weniger innovativen und konservativeren Gesetzgebung im digitalen Binnenmarkt führen könnte.

Da der digitale Binnenmarkt eine der zehn obersten Prioritäten der Junker-Präsidentschaft ist, um Wohlstand und Wachstum in der EU zu sichern, ist es für eine zukunftssichere und technologisch neutrale digitale Politik wichtig, dass Großbritannien mitreden kann.

Aus Handelssicht hätte ein Brexit in jedem Fall Auswirkungen auf gewisse Länder, die wirtschaftlich eng mit Großbritannien verbunden sind. Das würde vor allem Frankreich, Deutschland, Irland, Belgien und Schweden betreffen.

Gibt es Länder, die besonders betroffen wären, wenn Großbritannien aus der EU austreten würde?

Sowohl Frankreich als auch Deutschland generieren etwa 40 Prozent der E-Commerce-Nachfrage in Großbritannien. Zudem sind Irland, Belgien und Schweden die wichtigsten Exportländer für britische Online-Händler. Auch wenn es nicht ein einziges Land gibt, dessen E-Commerce-Industrie besonders betroffen wäre, würden die europäischen Kunden auf dem gesamten Kontinent höhere Preise hinnehmen müssen, wenn der Brexit zur Wiedereinführung von Zollgrenzen zwischen dem UK und der EU führen sollte – aber das ist äußerst unwahrscheinlich.

Wie würde sich der grenzüberschreitende Handel für EU-Händler verändern, sollte Großbritannien aus der Union austreten?

Der E-Commerce-Sektor ist einer der dynamischsten Sektoren in der Industrie. Da sich durch die Digitalisierung verändert, wie Kunden sich verhalten, einkaufen und ihre Ware geliefert bekommen möchten, ist es fast unmöglich, vorherzusagen, wie der grenzüberschreitende Handel auf einen Brexit reagieren würde. Trotzdem wäre ein mögliches, wenn auch unwahrscheinliches, Szenario, dass der britische E-Commerce-Sektor, der derzeit der größte in Europa ist, schrumpfen könnte – als direktes Ergebnis einer gesunkenen Nachfrage durch den Verlust des Zugangs zum europäischen Markt und einem Verlust des Kundenvertrauens durch Unsicherheiten hinsichtlich Verbraucherrechte und Verbraucherschutz. Dieses Szenario hängt aber natürlich von den “Scheidungsbedingungen” ab, die das UK mit der EU verhandeln kann.

Dem European B2C E-Commerce Report von 2016 zufolge hat Großbritannien derzeit 34,5 Prozent Anteil am gesamten europäischen B2C-E-Commerce-Markt. Sollte Großbritannien durch den Brexit nicht mehr am Binnenmarkt teilnehmen, würde das Land zweifellos einen beträchtlichen Teil seines Marktanteils an eine Vielzahl anderer Player wie etwa Frankreich, Deutschland, Belgien oder die Niederlande verlieren. Der Brexit könnte also auch eine Möglichkeit für andere Märkte sein, um zu wachsen.

Glauben Sie, dass das UK in der EU bleiben oder austreten wird?

Ecommerce Europe bezieht zu dieser Frage keine Stellung.

 

Über Marlene ten Ham

Marlene ten HamMarlene ten Ham ist Generalsekretärin von Ecommerce Europe, dem europäischen Dachverband, der über 25.000 Unternehmen vertritt, die Produkte und/oder Dienstleistungen online an Kunden verkaufen. Sie wurde vom Vorstand dazu berufen, den Dachverband zu vertreten und sie leitet das Ecommerce Europe Team in Brüssel. Ihr Ziel ist es, das Wachstum des grenzüberschreitenden Handels anzuregen, indem bessere rechtliche Rahmenbedingungen in Eruopa für Online-Unternehmen geschaffen werden. Marlene verfügt über zehn Jahre Erfahrung im Beratungssektor und ist derzeit Managing Partner einer Beratungsfirma. Sie berät ein breites Feld an Klienten bei der Ausarbeitung ihrer Lobbyarbeit auf europäischer Ebene. Marlene ist sehr erfahren darin, Themen in konkrete Strategien und Richtlinien umzusetzen und diese zu verwirklichen. Marlene hat Politikwissenschaften an der Universität Leiden in den Niederlanden studiert.

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