Bei den steigenden Transportkosten und Lieferengpässen suchen Händler nach Möglichkeiten, selbst Einfluss auf die Lieferkette zu nehmen.
Die derzeitige Situation in den Lieferketten ist prekär für Handelsunternehmen. Die Frachtraten steigen, während Kapazitäten knapper werden. Schiffsstaus, wie sie mittlerweile auch hierzulande auftreten, führen zu weiteren Verzögerungen. Nicht verwunderlich, dass große Händler nach Möglichkeiten suchen, die Logistik noch mehr in die eigenen Hände zu nehmen. Ist das eine zukunftsträchtige Lösung? Wir sprachen mit Michael Meyer, Supply Chain & Operations-Experte von Accenture Strategy über die aktuellen Herausforderungen und inwieweit es sich lohnt, beispielsweise eine eigene Logistikflotte aufzubauen.
Warenbeschaffung: Engpässe nehmen deutlich zu
Logistik Watchblog: Wie haben sich Ihrer Beobachtung nach die Warenverfügbarkeit und Lieferzeiten für von Händlern bestellten Waren in den letzten Monaten verändert?
Michael Meyer: Die Situation im europäischen Überlandverkehr bleibt vor allem aufgrund der Engpässe auf der Transportseite angespannt. Das lässt sich zum einen auf weiterhin durch die anhaltende Pandemie verursachten eingeschränkten Verfügbarkeiten von Fahrpersonal zurückführen, und zum anderen auf die geopolitischen Verwerfungen. Abweisungen von Transportanfragen nehmen – nach kurzer Erholung zu Beginn des Jahres – aktuell wieder deutlich zu. Das führt zu längeren Lieferzeiten und der Notwendigkeit seitens der Versender kontinuierlich nachzusteuern und Alternativen zu suchen.
Ähnliche Effekte sehen wir – wie schon im vergangenen Jahr – bei der Seefracht mit der anhaltenden Überlastung von Häfen, eingeschränkten Containerverfügbarkeiten, Personalengpässen und damit – neben Preisanstiegen – deutlich steigenden Lieferzeiten. Sogar im Bereich der Luftfracht ist aktuell vor dem Hintergrund der höheren Kerosinpreise und Luftraumsperren in Osteuropa keine Entspannung zu erwarten.
All das hat Auswirkungen auf die Warenverfügbarkeiten der Händler. Während das IFO-Institut im Januar noch meldete, dass 67,3 Prozent der Unternehmen statt 81,9 Prozent im Dezember im verarbeitenden Gewerbe sich mit Problemen bei der Beschaffung von Rohstoffen und Vorprodukten konfrontiert sehen, steigt der Anspannungsgrad aktuell wieder deutlich.
Welche Branchen und Waren sind aktuell besonders von Problemen in der Lieferkette betroffen?
Die bereits im vergangenen Jahr berichteten Engpässe bei der Beschaffung von beispielsweise Semikonduktoren/Mikrochips oder Elektronikkomponenten haben entsprechende „Abstrahleffekte“ in die verarbeitenden Industriezweige. Das reicht vom Haushaltsmixer bis in die Hightech- und Fahrzeugindustrie, resultiert aber auch in Holzknappheit und wachsenden Lieferzeiten bei Kunststoffen und Möbeln. Zwar sind viele dieser Engpässe ein Symptom der Pandemie, wurden aber auch durch die extreme globale Vernetzung mit entsprechenden Anfälligkeiten durch unter anderem meteorologische Extrem-Ereignisse, Streiks, geopolitische Verwerfungen oder neue Regularien und Förderungen, wie beim Beispiel Photovoltaik, zu einer Herausforderung.
Zudem wird der Ukraine-Krieg und die damit einhergehenden Sanktionen und Exportbeschränkungen zu weiteren Engpässen in unterschiedlichen Industrien führen. Das reicht vom Lebensmittelhandel über die Automobil- und Textilgewerbe bis zur Stahlindustrie und darüber hinaus. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Situation weiterentwickelt und welche weiteren Auswirkungen auf die Lieferketten damit einhergehen.
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Eigene Logistikflotten – ein Modell mit Zukunft?
Hohe Frachtraten und geringe Containerkapazitäten erschweren das Tagesgeschäft zahlreicher Handelsunternehmen. Ikea, Walmart oder Home Depot haben deshalb schon eigene Schiffe gechartert, um den nötigen Frachtraum auf See zu erhalten. Lidl gab gerade bekannt, eine eigene Reederei zu gründen. Ist der Auf- und Ausbau eigener Logistikflotten und -strukturen sowie Frachtkapazitäten ein Zukunftsmodell für die deutsche Wirtschaft?
Während aktuell die Frachtraten schwindelerregend hoch sind, führte die Seefracht noch im vergangenen Jahrzehnt wegen Überkapazitäten zu Verlusten. Aktuell liest man von Rekordgewinnen seitens der Reedereien und die Preise haben sich stellenweise mehr als versiebenfacht. Versender zahlten im März für einen 40-Fuß-Container auf der Strecke Shanghai-Rotterdam bis zu 13.000 US-Dollar und Entspannung scheint aktuell noch nicht in Sicht. Der Impuls einiger Unternehmen scheint also verständlich: Mit einer Selbstgründung nicht nur Kosten senken, sondern gegebenenfalls auch Gewinne in einem neuen Geschäftsfeld einfahren.
Da der Konsolidierungsdruck bei Reedereien durch die hohen Gewinne gesunken ist, geht auch die Zahl der Übernahmen zurück. Hohe Gewinne in einem konsolidierten Markt rufen natürlich Neueinsteiger auf den Plan, auch aus erstmal „fachfremden Industrien“. Jedoch geht die Überlegung mit einem hohen Kapitalaufwand, vor allem für die Containerschiffe, und ebenso hohen laufenden Kosten für den Betrieb und entsprechendes Personal einher. Unternehmen müssen abwägen, ob sich dieser Einsatz vor dem Hintergrund geringerer Transportkosten als direkter Return-on-Investment lohnt. Zusätzlich sichern die Unternehmen damit ab, dass ihre Waren in den Märkten verfügbar sind – ein hochkritischer Bereich für die genannten Handelsunternehmen.
Für wen lohnt sich das?
Dieser Schritt lohnt sich gerade für Unternehmen, deren Kerngeschäft besonders durch Lieferengpässe bedroht ist und die die nötige Finanzkraft und Risikobereitschaft mitbringen.
Handelsunternehmen mit geringer Wertschöpfungstiefe im wettbewerbsintensiven Umfeld mit Kunden, die nicht zwingend an die angebotenen Marken gebunden sind, sind natürlich kurzfristig ganz anders bedroht als Industrieunternehmen, deren – oft kundespezifische und zertifizierte – Produkte tief in den Wertschöpfungsketten nachgelagerter Stufen integriert sind.
Eine eigene Flotte löst nicht alle Probleme
Welche Herausforderungen gehen mit eigenen Logistikmodellen einher? Wie lange dauert es beispielsweise, diese Kapazitäten aufzubauen und lassen sich so tatsächlich Lieferengpässe überwinden?
Eine Betrachtung der aktuell geplanten Neubau-Kapazitäten für Großschiffe zeigt bereits prall gefüllte Auftragsbücher. Gerade die Kapazitäten in China oder Südkorea sind gut ausgelastet: 2020 wurden ca. 114 Containerschiffe von den Reedereien bestellt, 2021 bereits 561 Frachter. Vor dem Hintergrund der aktuellen Situation erwarten wir nicht, dass der Trend abreißen wird, sodass allein der Aufbau einer Flotte entsprechend Vorbereitungszeit erfordern würde. Es sei denn, man geht Kooperationen mit anderen Reedereien ein, um die Auslastung der Frachter zu optimieren. So könnte man auch schon relativ kurzfristig drohende Lieferengpässe abwenden und Warenverfügbarkeiten sichern, während der Aufbau der eigenen Flotte eine Wette auf die Zukunft darstellt.
Doch selbst bei einsatzbereiten eigenen Flotten können sich diese Unternehmen nicht so einfach vor den aktuellen Auswirkungen der Pandemie und der Geopolitik schützen: Personalengpässe in der eigenen Flotte, überlastete Häfen mit Rückstaus und Nadelöhren im nachgelagerten Überlandverkehr oder überdurchschnittliche Liegezeiten treffen auch das eigene Geschäft. Unternehmerische Flexibilität ist in dem Fall dann sicherlich einfacher durchzusetzen, kann aber die Gesamtproblematik nicht lösen. An dieser Stelle wäre es sicherlich einfacher, schnellstens Transparenz über die Kernbrennpunkte in den Lieferketten durch Digitalisierung herzustellen, vorausschauendes Risikomanagement zu etablieren und gezielt SWAT-Teams auf die Problemlösung anzusetzen.
Wie wirkt sich diese verstärkte Einflussnahme der großen Unternehmen auf den Wettbewerb aus? Können kleinere Handelsunternehmen da mithalten?
Die aktuelle Situation zeigt, dass Großunternehmen tatsächlich vermehrt direkte Buchungen bei Reedern vornehmen und die Speditionen damit zunächst außen vor sind. Dennoch hat sich die Situation der Speditionen in den vergangen sechs bis zwölf Monaten deutlich verbessert. Während zu Hochzeiten der Pandemie noch deutliche Auftragsrückgänge unter hohem Wettbewerbsdruck zu niedrigen Frachtpreisen zu verzeichnen waren, steigt die Auftragslage vieler Unternehmen hier tendenziell weiter an und die vormals berichtete Insolvenzgefahr sinkt kontinuierlich. Der Ausblick ist aktuell auch für den europäischen Raum wieder optimistisch.
Kleinere Händler werden sich in diesem Umfeld weiter behaupten müssen, durch die geringere Einkaufsmacht sind diese auf das Speditionsgeschäft angewiesen und können nicht an den vorteilhafteren Konditionen der Reedereien bei Direktbuchungen profitieren. Aber auch hier bieten sich Chancen durch die höhere Flexibilität und geschicktes Eingehen von Geschäftsverbindungen.
Zügige Digitalisierung ist unerlässlich
Welche womöglich weniger kostspielige Möglichkeiten haben Händler, um auf die aktuellen Lieferengpässe zu reagieren? Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang Digitalisierung und Automatisierung?
Wie bereits dargelegt, könnten Unternehmen neue Kooperationen eingehen bzw. durch frühzeitiges Buchen Engpässe abwenden. Nichtsdestotrotz bleibt es unerlässlich, dass Unternehmen selbst nachsteuern und so auf etwaige Ausfälle flexibel reagieren. Dahingehend ist eine zügige Digitalisierung der Lieferkette für maximale Transparenz unumgänglich. Nur so können Unternehmen entsprechend zielgerichtet auf Ausfälle und Schwankungen antworten. Mit einer datenbasierten Grundlage lassen sich zudem eine Vielzahl an Prozessen von der Angebotseinholung über die Buchung bis zum Dokumenten-Management mit Blick auf Verzollung und Versicherung automatisiert erledigen.
Außerdem kann so eine direkte Anbindung an das Transportmanagement des Logistikdienstleisters oder an die entsprechenden Lager erfolgen. Bei einer flexiblen, den Umständen sich anpassenden Planung ist die transparente Zusammenarbeit entscheidend, um weitere Engpässe bei Logistik und Lagerung zu vermeiden.
Vielen Dank für das Gespräch!
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