Interview mit Alexander Mahr und Jan Sedlacek von Stryber

„Hauruck-Digitalisierungen sind verzweifelte Überlebensversuche.“

Veröffentlicht: 03.07.2020 | Geschrieben von: Markus Gärtner | Letzte Aktualisierung: 03.07.2020
Coronavirus und Folgen

Das Schweizer Unternehmen Stryber ist ein Corporate Venture Builder und baut für und mit anderen Unternehmen wie Migros und Swisscom StartUps auf. Dass der Firma Digitalisierung im Blut liegt, sieht man auch an der Beschreibung der Teamseite: Die Mitarbeiter werden „Stryborgs“ genannt. Die Stryber-Mitgründer Alexander Mahr und Jan Sedlacek erklären im Interview, warum Digitalisierung nicht nur in der Coronakrise zur Überlebensfrage wird, wie stationäre und Online-Unternehmen ihr Geschäftsmodell für die Zukunft ausrichten sollten und aus welchen Bereichen sich die Politik in der Krise heraushalten sollte.

OnlinehändlerNews: Der Handel darbt in der Coronakrise: Vor allem rein stationäre Anbieter leiden besonders und versuchen teils noch, gezwungenermaßen in den E-Commerce einzusteigen – zu spät?

Alexander Mahr: Es ist aktuell wesentlich einfacher, Umsatz im bestehenden Kerngeschäft auf digitale Vertriebskanäle zu verschieben – vorausgesetzt, diese Kanäle sind bereits ausgereift genug, um der absoluten Nachfrage und den Konsumenten-Bedürfnissen gerecht zu werden. Damit haben aber sicher viele rein stationäre Anbieter Probleme, da es schwierig ist, aus diesen kurzfristigen Effekten ein substanzielles Geschäft zu entwickeln.

Wenn man aktuell Webcams auf Lager hat, hat man vielleicht ein begehrtes Produkt, aber E-Commerce gibt es seit über 25 Jahren. Geschäftsmodelle haben sich entwickelt, Marktanteile sind verteilt. Da genügt es nicht, „gezwungenermaßen” einzusteigen. Man muss sich schon darauf einlassen – und das heißt insbesondere, nicht einfach zu versuchen, offline eins-zu-eins auf online zu münzen.

„Hauruck-Digitalisierungen sind verzweifelte Überlebensversuche“

Viele Unternehmen und Initiativen unterstützen in der Coronakrise den Start stationärer Händler im E-Commerce mit besonderen Angeboten. Können solche Ad-hoc-Aktionen überhaupt Erfolg bringen – dauert doch allein der Aufbau eines eigenen Webshops ansonsten deutlich länger?

Jan Sedlacek: Nein. Solche Hauruck-Digitalisierungen sind eher verzweifelte Überlebensversuche. Es ist eine Sache, mal schnell über Nacht einen Shopify-Shop ins Web zu stellen und damit bestenfalls einen Kanal zu digitalisieren. Es ist eine komplett andere Geschichte, sein Geschäftsmodell zukunftsfähig zu machen.

Aber die Krise hat zum einen vielen klar gemacht, dass die Digitalisierung nicht einfach ein netter Trend ist, sondern tatsächlich zur Überlebensfrage für viele wird. Zum anderen hat die Krise auch gezeigt, wie schwierig eine echte Digitalisierung tatsächlich ist. Diejenigen, die vorgearbeitet haben, sind nun in einer besseren Position. Geschäftsmodelle, die jetzt unter der Krise leiden, stehen natürlich besonders in Zugzwang, sich nachhaltig und schnell in neue Geschäftsmodelle zu diversifizieren.

„Der Schlüssel zum Überleben: Neues entstehen zu lassen, das auf dem Alten aufbaut“

Experten gehen davon aus, dass der Online-Handel von der Krise profitieren wird. Wie kann der stationäre Handel langfristig überhaupt noch überleben?

Mahr: Er wird als Kanal sicher überleben – mit anderen Konzepten und mit kleineren Marktanteilen. Aber wer glaubt, dass man den Status Quo erhalten oder die Digitalisierung ausblenden kann, hat sicher noch keine realistische Mittelfristplanung erstellt. Anstatt das Alte krampfhaft zu bewahren, ist doch viel spannender, dass Traditionsunternehmen mit Weitblick und finanziellen Reserven jetzt so günstig wie schon lange nicht mehr strategische Wetten in die Digitalisierung lancieren können. Ohne Zweifel: das Geld kommt aktuell noch aus dem angestammten Geschäft. Und sicher ist es sinnvoll, dort den Fokus auf Effizienzmaßnahmen zu legen. Aber Kapitalinvestitionen sind dort unter Umständen nicht mehr sinnvoll allokiert. Ist es zum Beispiel sinnvoll, ein neues stationäres Einkaufserlebnis zu schaffen, wenn das Wachstum in digitalen Kanälen entsteht, in ganz anderen Geschäftsmodellen? Von daher sind die Opportunitätskosten für entsprechende Investitionen in Geschäftsmodell-Innovationen vergleichsweise gering. Der Schlüssel zum Überleben ist, Neues entstehen zu lassen, das auf dem Alten aufbaut.

Auch Online-Riesen wie Amazon kamen durch das Bestellaufkommen z.B. logistisch an ihr Limit und vergraulten Kunden. Welche Lehren müssen der E-Commerce generell und einzelne Online-Händler aus der Coronakrise ziehen?

Sedlacek: Einige wenige Anbieter haben in der Krise gerade in zwei Monaten das Wachstum von zwei Jahren erlebt und haben das auch verhältnismäßig gut gemeistert. Schauen Sie sich z.B. Galaxus an. Aber auch Amazon attestiere ich einen guten Umgang mit der Krise.

Auf der anderen Seite ist die User Experience vor allem traditioneller Anbieter in der Krise sehr schlecht gewesen, so dass sie sich für die Konsumenten nicht als valide Alternative qualifizieren konnten. Mit überlasteten Lieferketten und mangelnder Kapazität in der Auslieferung hatten alle gleichermaßen zu kämpfen, die User Experience war aber extrem unterschiedlich. Während schlechte Anbieter ihre User einfach auflaufen ließen, hatten die guten innerhalb kürzester Zeit ihre Sortimente und User Interfaces angepasst.

Ich denke, diejenigen Händler, die es während der ersten Welle der Coronakrise nicht geschafft hatten, ihre User Experience in den Griff zu bekommen, haben auch sehr schlechte Karten für die Zukunft. Sie sind schlicht nicht adaptiv genug aufgestellt und werden von Modellen abgelöst, die schneller lernen, sich auf neue Realitäten einzustellen. 

Alexander Mahr (links), Jan Sedlacek von Stryber

Diese Branchen haben die größten Corona-Effekte

In welchen Branchen wird es die größte Wanderung zum E-Commerce geben und warum?

Sedlacek: Ich sehe die Coronakrise als einen Brandbeschleuniger der Industriellen Revolution: Wir haben in vielen Branchen in wenigen Monaten Verschiebungen gesehen, die sonst Jahre gebraucht hätten. Die Konsumenten werden gerade zu gravierenden Verhaltensänderungen gezwungen, die die Customer Experience vieler Traditionsmodelle zunichte macht. Der Trend zum E-Commerce war ja vorher schon stark – jetzt ist er nicht mehr aufzuhalten. Davon betroffen sind natürlich insbesondere Retailing, Walk-in-Modelle wie Restaurants oder Services, die physische Zusammenkünfte beinhalten, wie im Reise- oder Event-Geschäft.

Die größten strukturellen Verschiebungen werden wir wohl überall da sehen, wo die Wertschöpfungstiefe eines Geschäftsmodells nicht sehr tief ist, also insbesondere Modelle, die eine reine Intermediär-Funktion haben, wie Retail, Fashion oder stark mit klassischen Vertriebswegen verwoben sind, wie etwa Banken oder Fast Moving Consumer Goods, die gar keinen direkten Kundenzugang haben.

Viele Beispiele zeigen jedoch auch die Flexibilität mancher Unternehmen, die ihr Geschäftsmodell oder Sortiment umgebaut haben – löst die Coronapandemie den dringend erwarteten Innovations- und Digitalisierungsschub in Deutschland aus?

Mahr: Ja, diese Unternehmen beweisen Agilität, Erfindergeist und Resilienz. Dabei entstehen neue Ansätze und Endkunden nehmen das dankend an. Nun, werden Restaurants deswegen langfristig nur noch Lieferungen anbieten, Brauereien nur noch Desinfektionsmittel produzieren und Arbeitnehmer nur noch Home Office machen? Teilweise ja, aber sicher nicht vollends.

Trotzdem entsteht jetzt viel Neues, das auch langfristig Bestand haben kann. Sicherlich werden in Zukunft Home-Office-Angebote auch den hartnäckigsten New-Work-Gegnern gefallen – zumindest ab und an. Und Ghost Kitchens, also reine Lieferrestaurants, waren auch vor Covid-19 schon ein Trend. Neue Modelle auszuprobieren wäre eigentlich auch ohne Krise immer opportun. Zumindest, wenn man den Anspruch hat, über dem Marktwachstum zu wachsen. Die Krise lässt die Teilnehmer nur aus der Not eine Tugend machen. Und das ist ein positiver Schub, von dem man langfristig profitieren kann – wenn man sich darauf einlässt.

So sollten Unternehmen Innovationen umsetzen

Innovation kostet Geld – gerade das geht aber durch fehlende Umsätze vielen gerade aus. Wie können sich Unternehmen aus dieser Misere retten? Muss der Staat finanziell noch mehr unter die Arme greifen?

Sedlacek: Innovation muss viel längerfristig gedacht und geplant werden, als diese hoffentlich nur ein bis zwei Jahre andauernde Krise. Wir reden über einen Zeithorizont von fünf bis zehn Jahren, die Innovationen brauchen, um richtig Fuss zu fassen. Der Staat soll die Unternehmen nur mit Liquidität zur Überbrückung der kurzfristigen Engpässe ausstatten, aber sicher nicht zur Strukturerhaltung, was jegliche längerfristigen Investitionen de facto wären, auch wenn sie „Innovation” genannt werden. Wie gesagt, wir sprechen von einer industriellen Revolution, die sich hier abspielt. Da ist die Corona-Krise auch nur eine kurzfristige Episode davon.

Unternehmen, die durch die Krise in existentielle Probleme gerutscht sind, sollten sich jetzt nicht mehr mit Innovation beschäftigen. Zumindest nicht, solange es ums Überleben geht. Das ist sogar eine sehr gute Gelegenheit, dem ganzen Innovationstheater den Stecker zu ziehen, das nachweislich nichts oder nur sehr wenig bringt: Ich spreche von Accelerator-Programmen, Minderheitsbeteiligungen an StartUps oder Firmen-weiten Kulturwandel-Initiativen zur Agilisierung von Unternehmen und ähnlichem. Sobald es den Unternehmen aber wieder besser geht, müssen diejenigen, die nochmal mit dem Schrecken davongekommen sind, sich wirklich fragen, wie gut sie denn für die nächste Krise aufgestellt sind und entsprechend investieren.

„Es werden viele scheitern, die auch ohne Krise ein dünnhäutiges Geschäftsmodell hatten“

Ihr Unternehmen Stryber hat sich auf den operativen Aufbau von StartUps spezialisiert – diese sind durch fehlende Rücklagen besonders betroffen. Wie kann man ein großes StartUp-Sterben verhindern?

Mahr: Die Krise übt Druck auf das ganze System aus. Es werden viele scheitern, die auch ohne Krise ein eher dünnhäutiges Geschäftsmodell hatten – nur schneller. Das trifft natürlich nicht auf alle bedrohten Geschäftsmodelle zu. Die typische Wachstumsfinanzierung für StartUps hat oft einen 12-18-monatigen Zeithorizont. Insofern stellt sich hier eine Timing-Frage: wann war die letzte Finanzierungsrunde und wie lange kann das StartUp den „Runway” – also die Zeitspanne, an deren Ende das Geld ausgeht – strecken.

Nach der Krise kommt der Aufschwung. Auch hier gibt es smarte Investoren, die die Krise zu nutzen wissen: Zusammenschlüsse schmieden größere, stabilere Unternehmen oder gezielt eingesetztes Wachstumskapital sorgt für einen relativ preiswerten Marktanteilsgewinn.

Grundsätzlich entspannter ist die Situation bei StartUp-Modellen, die nicht zwingend auf Wachstumskapital angewiesen sind und sich schon in einer krisenresistenten Gewinnzone befinden. Staatliche Hilfen würden auch StartUps und ihre Investoren unterstützen. Somit wird das destruktive Moment der Krise sicher etwas verlangsamt, aber es wird trotzdem diese Effekte geben. Und das sind natürlich auch Chancen. Insgesamt muss das Ökosystem für seine Teilnehmer, insbesondere Gründer und deren Investoren, attraktiv bleiben. Diese nicht ganz leichte Aufgabe fällt der Politik zu.

Vielen Dank für das Gespräch!

Kommentare  

#1 Peter 2020-07-06 13:04
Einmal mehr: “predicting rain doesn’t count; building arks does” (warren buffet).
Im Portofolio von Stryber sehe ich leider noch nicht mal ein Ruderboot.
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