In Zukunft Omni-Channel

Die Coronakrise: Das Dilemma des stationären Handels?

Veröffentlicht: 22.09.2021 | Geschrieben von: Christoph Pech | Letzte Aktualisierung: 22.09.2021
Corona Lockdown

März 2020: Das Coronavirus hat Deutschland erreicht, innerhalb nur weniger Tage herrscht Ausnahmezustand. Die Antwort der Politik heißt: Lockdown. Und damals grenzt es tatsächlich noch an einen echten Lockdown. Raus soll man möglichst nur aus gutem Grund, wer nicht gerade einkauft, mit dem Hund unterwegs ist oder zur Arbeit muss, sollte tunlichst in den eigenen vier Wänden bleiben. Für Familien ist das eine ganz besondere Herausforderung. Unternehmen führen Homeoffice im Schnelldurchlauf ein, Kinder können von jetzt auf gleich nicht mehr in die Schule oder in die Kita.

Auch für die Wirtschaft ist es ein Horrorszenario, vor allem für den Handel. Der stationäre Einzelhandel ist dicht, wer nicht gerade „systemrelevant“ ist, schließt seinen Laden und hofft, dass dieser Lockdown schnellstmöglich wieder vorbei geht. Damals weiß niemand, wann das sein wird. Staatliche Hilfen helfen in der Folge dabei, viele Unternehmen vor dem Bankrott zu bewahren, Einnahmen bleiben aber aus, wenn niemand einkauft. Viele Händlerinnen und Händler wagten darum den Blick über den Tellerrand ins Internet – und wurden dabei auch von der Branche unterstützt. Dass niemand eine Wiederholung will, ist klar, trotzdem hat Corona gezeigt, was in sehr kurzer Zeit möglich – auch wenn sich wohl alle gewünscht hätten, den Ausbau des Online-Geschäfts mit weniger existenziellem Druck anzugehen.

Zwischen 90 Prozent Einbußen und gewachsenen Strukturen

Auch Unternehmen, die im Omni-Channel durchaus erprobt sind, sind sehr unterschiedlich durch den anfänglichen Lockdown gekommen. „Abgesehen von den vorübergehenden Filialschließungen aufgrund der Lockdowns hat sich für uns während der Pandemie wenig verändert“, sagt zum Beispiel Conrad-CEO Ralf Bühler. Der Elektronikhändler ist aber auch kein Neuling im Online-Geschäft. Seit 1997 bietet das Unternehmen seine Waren auch digital an, für viele Kunden war der Weg aus der Filiale in den Online-Shop vergleichsweise kurz.

Bei einem stationären Klassiker wie Ikea sah das anders aus. „Der Lockdown und die damit verbundene Schließung aller Ikea Einrichtungshäuser im März 2020 führte zu einem vorübergehenden Umsatzeinbruch von 90 Prozent“, so eine Unternehmenssprecherin. Gerade in einer stationären Domäne wie dem Möbelhandel verwundert das nicht. Für Ikea war dies aber ein enormer Treiber für das Online-Geschäft. Die online erzielten Umsätze seien parallel zu den Filialschließungen sprunghaft angestiegen.

Dass man das Geschäftsjahr 2020 trotz der Pandemie erfolgreich abschließen konnte, sei der Tatsache geschuldet, „dass wir in der Lage waren, unser Geschäft in Rekordgeschwindigkeit auf die veränderten Rahmenbedingungen anzupassen: Der Ausbau von Click & Collect und des Online Planungs- und Beratungsservices haben wesentlich dazu beigetragen, dass wir weiterhin für unsere Kund:innen da sein konnten.“ Die Einrichtungshäuser wurden kurzerhand zu Fulfillment-Centern umfunktioniert, Online-Bestellungen wurden aus den Märkten heraus verarbeitet. So blieben diese auch in der Pandemie zentraler Bestandteil des Geschäfts.

Der Sportartikel-Anbieter Decathlon nutzte den Lockdown kurzerhand zum Ausbau seiner ohnehin vorhandenen Omnichannel-Strukturen. Corona habe das Unternehmen in seiner strategischen Ausrichtung vom „Connected Retail“ bestärkt und noch einmal den Stellenwert verschiedener Vertriebskanäle unterstrichen. „Durch die Einschränkungen im öffentlichen Leben haben wir auf neue Initiativen gebaut: Zum Beispiel haben wir – zusätzlich zum bestehenden Click & Collect – einen Drive-in Service in ausgewählten Dcathlon Filialen eingerichtet. Dadurch konnte online bestellt, bezahlt und das Paket an der jeweiligen Filiale abgeholt werden, ohne aussteigen zu müssen“, erklärt das Unternehmen – Krise macht kreativ.

Vor ganz eigene Probleme wurden die Brillenspezialisten von Fielmann gestellt. Zu Beginn der Pandemie habe man vor einem Dilemma gestanden, wie Stefan Wolk, Director E-Commerce bei Fielmann, verdeutlicht: „Brillen und Hörsysteme sind nicht nur Teil der Daseinsvorsorge, sondern auch systemkritisch.“ Als systemrelevanter Versorger durfte Fielmann seine Filialen offen halten, schloss sie im März 2020 kurzzeitig aber trotzdem, weil man sowohl Kunden als auch Mitarbeiter schützen wollte. Man habe dann in Zusammenarbeit mit dem renommierten Hygienewissenschaftler Prof. Dr. Martin Exner Hygienestandards entwickelt und prüft diese fortwährend. „Erst nach Einführung der Hygienestandards haben wir unsere Niederlassungen wieder geöffnet“, so Wolk.

Für Fielmann war der Lockdown vielleicht nicht der Startschuss – eine Omnichannel-Strategie verfolgte man auch schon vorher – aber ganz sicher ein Beschleuniger hin zu einer digitaleren Aufstellung des Angebots. Wolk erklärt: „Um Kundenströme besser lenken zu können und die Frequenz in unseren Niederlassungen intelligent zu steuern, haben wir die Zeit der Pandemie genutzt, um unsere Digitalisierung voranzutreiben und unser Omnichannel-Geschäftsmodell international auszurollen.“ Fielmann hat zusätzliche Online-Bestellmöglichkeiten bei Kontaktlinsen und Sonnenbrillen geschaffen und die Online-Terminvereinbarung eingeführt – die dem Unternehmen zufolge 2020 über sechs Millionen Mal genutzt wurde. Über die Omnichannel-Plattform versorge man heute 27 Millionen Kunden.

Corona-Boom

Dass die Corona-Krise für große Teile des Online-Handels – wirtschaftlich – durchaus lukrativ war, ist kein Geheimnis. Das Statistische Bundesamt bescheinigte dem E-Commerce schon im vergangenen Oktober Umsatzzuwächse von über 30 Prozent. Davon profitierten freilich auch Omnichannel-Händler. Conrad als langjähriger „Hybrid“ konnte stationäre Verluste ohnehin vergleichsweise problemlos auffangen. Aber auch bei anderen Branchenvertretern zeigt sich 2020 eine starke Vergrößerung der Online-Umsätze. Bei Decathlon habe die Nachfrage nach dem Online-Shop enorm zugenommen, übrigens ein „Trend, der sich mit Sicherheit auch nach der Pandemie fortsetzen wird, da viele Kund:innen ihr Kaufverhalten der ‚neuen Normalität‘ angepasst haben“, so das Unternehmen. Der E-Commerce-Anteil am Nettoumsatz liegt mittlerweile bei 28 Prozent.

Bei Ikea liegt der Online-Anteil am Gesamtumsatz für das Geschäftsjahr 2020 (1. September 2019 bis 31. August 2020) bei 16,2 Prozent – im Jahr davor waren es 9,4 Prozent. Der reine Online-Umsatz ist bei den Schweden um satte 74,3 Prozent auf 861 Millionen Euro gestiegen. Die Zahlen zeigen, was Experten seit Jahren gebetsmühlenartig predigen: Der E-Commerce ist für den stationären Einzelhandel kein Nice-to-have, sondern essentielle Säule einer lukrativen Zukunft.

Learnings für die Zukunft

Die Coronakrise hat außerdem – teils sehr schmerzhaft – offengelegt, wo es in Deutschland digitalen Nachholbedarf gibt. Die Wirtschaft benötigt digitale Strukturen für Fernarbeit, das Schulsystem muss grundlegend modernisiert werden, der Breitbandausbau kann nicht im Vorbeigehen gemeistert werden. Und der Handel kann sich nicht allein auf seine vier Wände in der Innenstadt verlassen.

Corona führt hier zu einem Umdenken – auch auf Kundenseite: „Viele Kund:innen, die bisher noch nie Möbel und Einrichtungsgegenstände online gekauft hatten, haben in der Pandemie positive Erfahrungen mit dieser Art des Einkaufens gesammelt. Auch die Online-Beratung und -Planung wurde sehr gut von den Kund:innen angenommen. Daher gehen wir davon aus, dass diese Services für viele eine attraktive Alternative bleiben werden, denn die Rückmeldungen dazu sind sehr positiv“, heißt es zum Beispiel von Ikea.

Omnichannel heißt nicht Entweder-Oder, sondern die Verzahnung aller Möglichkeiten, um die Kunden abzuholen. „Die Zusammenarbeit zwischen E-Commerce, den Stores und anderen Unternehmensbereichen ist nochmals enger und effizienter geworden“, sagt Decathlon. Fielmann arbeitet – auch schon vor Corona – an der „nahtlosen Verknüpfung digitaler und stationärer Vertriebskanäle“, erklärt Stefan Wolk. Das nahtlose Einkaufserlebnis wird auch von Ikea betont.

Bei Conrad wiederum habe man gar nicht viel verändern müssen, wurde aber in seinen Bemühungen bestärkt, wie Ralf Bühler ausführt: „Veränderungen mit Blick auf das Geschäft gab es bei uns aufgrund unseres seit Jahrzehnten etablierten Omnichannel-Ansatzes in dem Sinne nicht, aber die Erfahrungen der Pandemie haben die Richtigkeit und Zukunftsfähigkeit unserer strategischen Ausrichtung untermauert.“ Corona habe außerdem klar gemacht, „wie wichtig der Faktor Mensch und der damit verbundene direkte und persönliche Kontakt ist.“

(Kein) Gegeneinander ausspielen

Die Pandemie hat auch eine alte Diskussion wieder neu entflammt. Wenn es um den Online-Handel geht, wird seit Jahren das Vorurteil bemüht, dass die Innenstädte leiden. Im Zuge der Lockdowns bekam die Diskussion neues Futter, Forderungen nach Extra-Steuern für Online-Händler wurden wieder einmal laut – in einer Zeit, in der die Branche den Weg ins Internet und auf das Smartphone eigentlich gehen müsste anstatt die Konkurrenz zu beschwören. „Wer dem Online-Handel die Schuld am Aussterben der Innenstädte zuschiebt, macht es sich in meinen Augen etwas zu einfach“, so Conrad-Chef Bühler.

Studien belegen zudem, dass das Shoppen in der Innenstadt – gerade aufgrund der Einschränkungen in der Pandemie – herbeigesehnt wird. In einer YouGov-Umfrage aus dem Sommer geben 63 Prozent der Deutschen an, Produkte im Geschäft persönlich begutachten zu wollen, 52 Prozent sehen es als dezidierten Vorteil, Produkte zu testen oder Dienstleistungen ausprobieren zu können. Es ist also notwendig, mehrgleisig zu fahren, um die Kundschaft abzuholen. Stefan Wolk von Fielmann drückt es so aus: „Kunden unterscheiden heute nicht mehr zwischen online und offline, sie erwarten eine durchgängige Customer Journey. Die Zukunft liegt in unserer Branche im Omnichannel-Geschäftsmodell.“

„Deutlich besser durch die Krise gekommen sind Händler, die parallel zum stationären Geschäft auch auf Online-Handel setzen“, betont auch Ikea und stellt anschließend gleich die große Stärke des stationären Einzelhandels heraus: „Die Einzelhandelslandschaft ist vielfältig – von kleinen inhabergeführten Läden in der City oder im ländlichen Bereich bis zu dem großflächigen Einzelhandel auf der grünen Wiese oder am Stadtrand. Der stationäre Einzelhandel ist ein wichtiger Bestandteil der Einzelhandelslandschaft und Gesellschaft in Deutschland, vitaler Teil der Innenstädte und auch für den ländlichen Raum von großer Bedeutung, nicht nur für die Versorgung der Menschen, sondern auch als sozialer Treffpunkt.“

Vielleicht kann man den Konflikt so auflösen: In der Coronakrise hat der E-Commerce viele stationäre Anbieter vor der Pleite bewahrt. Wer das als Chance und nicht als Gefahr begreift, kann in der nächsten Krise nur profitieren.

Über den Autor

Christoph Pech
Christoph Pech Experte für: Digital Tech

Christoph ist seit 2016 Teil des OHN-Teams. In einem früheren Leben hat er Technik getestet und hat sich deswegen nicht zweimal bitten lassen, als es um die Verantwortung der Digital-Tech-Sparte ging. Digitale Politik, Augmented Reality und smarte KIs sind seine Themen, ganz besonders, wenn Amazon, Ebay, Otto und Co. diese auch noch zu E-Commerce-Themen machen. Darüber hinaus kümmert sich Christoph um den Youtube-Kanal.

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