Deutschland wird vom 1. Juli bis zum 31. Dezember den Vorsitz im Rat der Europäischen Union übernehmen. In diesen sechs Monaten hat die Bundesregierung die Möglichkeit die Arbeitsschwerpunkte der Europäischen Union zu bestimmen und noch mehr als sonst nach eigenen Interessen zu gestalten.
Der Rat der Europäischen Union oder EU-Ministerrat vertritt im EU-Gesetzgebungsprozess die Interessen der Mitgliedstaaten und setzt sich aus den jeweiligen Fachministern für einen Politikbereich zusammen. So gibt es etwa den Rat für Wirtschaft und Finanzen, den Rat für Auswärtige Angelegenheiten oder den Rat für Wettbewerbsfähigkeit. Allen diesen Ministertreffen sowie den zahlreichen Arbeitsgruppen wird Deutschland im kommenden halben Jahr vorsitzen.
Nicht zu verwechseln ist der Rat der Europäischen Union mit dem Europäischen Rat. In letzterem kommen halbjährlich die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer zusammen, um die grundlegende politische Ausrichtung der EU zu verhandeln.
Priorität Nummer 1: Wirtschaftliche Erholung nach dem Coronaschock
Eigentlich wurden die Beziehungen zu China lange Zeit als oberste Priorität der Bundesregierung gehandelt. Hier wollte man als EU-27-Block ein einheitliches Verhältnis zur östlichen Supermacht aufbauen. Doch wegen der Coronakrise wird daraus nichts. Auch der große EU-China-Gipfel, der im September in Leipzig stattfinden sollte, wurde auf unbestimmte Zeit verschoben.
Jetzt steht die Konjunkturankurbelung im Vordergrund. Bereits im Mai hatte die EU-Kommission einen großen EU-Wiederaufbaufonds angekündigt. Doch noch gibt es Streit zwischen den Mitgliedstaaten darüber, wer wie viel Geld einzahlen und erhalten soll. Deutschland wird die Vermittlerrolle in diesem Konflikt zukommen. Ebenso wird die Bundesregierung auch die Verhandlungen rund um den EU-Finanzrahmen führen, der ab 2021 den Rahmen für das Budget der EU für die nächsten sieben Jahre setzt und der seit langem umstritten ist. Bis zum Jahresende sollen für die beiden strittigen Themen unter deutschem Vorsitz Einigungen getroffen werden.
Bye-Bye, UK!
Auch der Brexit wird in den Zeitraum der deutschen Ratspräsidentschaft fallen. Denn am 1. Juli läuft die Frist zur Verlängerung des Übergangszeitraums ab. Das Vereinigte Königreich hat klar gemacht, dass es diese Frist nicht verlängern wird. Damit wird ein Austritt aus der EU zum 1. Januar 2021 quasi unausweichlich.
Da die Briten ebenfalls klar gemacht haben, dass sie sich in Sozial-, Umwelt- oder Verbraucherschutzstandards künftig nicht eng an die EU binden wollen, wird es wohl höchstens ein nicht sehr tiefgehendes Handelsabkommen geben. „Es muss dann leider Zölle und Einfuhrquoten geben”, kündigte Kommissionspräsidentin von der Leyen für diesen Fall im Handelsblatt an. „Großbritannien wäre dann ein Drittstaat wie viele andere unserer globalen Handelspartner.”
Mehr Digitalplattformen aus der EU – Einschränkung der US-Riesen
Ein weiterer Schwerpunkt der deutschen Ratspräsidentschaft wird eine Reform des europäischen Wettbewerbsrechts sein. Das Ziel: Die europäische Digitalwirtschaft soll im Wettbewerb gegen die US-Riesen bestehen können. „Europäische Champions” sollen sich entwickeln können, also Digitalunternehmen aus der EU, die mit den Amazons, Facebooks und Googles mithalten können. Eine solche Reform hatte Bundeswirtschaftsminister Altmaier bereits vergangenes Jahr mit seinen Amtskollegen aus Frankreich und Polen gefordert.
Das soll geschehen, in dem man frühe Übernahmen von Unternehmen aus EU-Staaten durch asiatische oder US-amerikanische Riesen verhindert und somit das Wachstum der Unternehmen fördert. Im Gegensatz dazu sollen Fusionen von zwei europäischen Firmen erleichtert werden, damit sich sehr große Konzerne in der EU bilden können. Und die Marktmacht der US-Plattformen soll eingeschränkt und streng kontrolliert werden. Hier hatte Altmaier letztes Jahr Maßnahmen vorgeschlagen, die der aktuell laufenden Reform des deutschen Wettbewerbsrecht ähneln.
Europaweite Digitalsteuer
Eine Digitalsteuer für die internationalen Großunternehmen ist schon seit längerer Zeit geplant. Beim letzten Versuch eine EU-weite Lösung zu finden, hatte sich Deutschland noch quergestellt. Doch jetzt, da auch in einigen EU-Staaten schon solche Steuern eingeführt wurden, hat sich auch eine deutsche Bereitschaft für eine Digitalsteuer entwickelt, um eine Fragmentierung des europäischen Binnenmarktes zu verhindern. Während der Ratspräsidentschaft will Deutschland zwischen den EU-Mitgliedstaaten vermitteln.
Die Notwendigkeit für eine EU-Lösung wird umso mehr betont, weil eine globale Einigung auf Ebene der OECD-Staaten vorerst unwahrscheinlich scheint. Dies wäre eigentlich die bevorzugte Vorgehensweise der EU-Führung, doch die USA stellen sich quer und haben sich aus den OECD-Verhandlungen zurückgezogen.
ePrivacy-Verordnung: Deutschland will einen Kompromiss herbeiführen
Die sogenannte ePrivacy-Verordnung ist fast schon zum Running Gag der EU geworden. Diese Verordnung soll den Schutz von personenbezogenen Daten und der Privatsphäre bei elektronischer Kommunikation sicherstellen und hätte eigentlich bereits 2018 – zusammen mit der DSGVO – in Kraft treten sollen. Daraus wurde nichts, weil sich die EU-Mitgliedstaaten einfach nicht auf einen Kompromiss zwischen Datenschutz und wirtschaftlichen Interessen einigen können. Seit 2017 gibt es keinen nennenswerten Fortschritt bei der Verordnung.
Eine Einigung der Mitgliedstaaten will Deutschland während der Ratspräsidentschaft nun herbeiführen. Die sechs vorigen Ratspräsidentschaften sind daran gescheitert. Streitpunkte sind vor allem die Daten, die für zielgerichtete Werbung erhoben werden, also zum Beispiel ob man für das Setzen von Cookies die aktive Zustimmung des Nutzers braucht oder nicht. Die Rechtslage ist hier aktuell wegen des Fehlens einer modernen EU-Verordnung mehr als unklar. Deutschland wird nun einen Entwurf vorlegen, der die Stimmen der anderen Staaten erhalten soll. Der Inhalt dieses Entwurfs wird mit Spannung erwartet – wird sich Deutschland eher für strengen Datenschutz oder lockere Regeln für die Werbewirtschaft aussprechen? Bereits im Juli kann ein erster Entwurf erwartet werden.
Sollen Marktplätze und Plattformen für Inhalte haften?
Eine absolute Priorität der EU-Kommission ist der Digital Services Act. Diese geplante Verordnung steht noch am absoluten Anfang des Prozesses und hat dementsprechend noch keine große Medienaufmerksamkeit auf sich gezogen. Doch könnte sich durch dieses Vorhaben einiges in der digitalen Wirtschaft ändern.
Die Kernfrage ist, wie man Online-Plattformen und Marktplätze besser regulieren kann und ob man die Webhoster für illegale Inhalte auf ihren Seiten haftbar machen sollte. Bisher sind Anbieter nur dann haftbar, wenn sie solche Inhalte nicht entfernen, nachdem diese gemeldet wurden. Dieses Verfahren gilt als einer der Pfeiler des nutzergenerierten Internets, wie wir es heute kennen. Eine Umkehr von diesem Prinzip hätte zur Folge, dass die Verfolgung von strafbaren Inhalten im Internet einzelnen Unternehmen zukäme und nicht mehr dem Staat. Aufgrund der hohen Datenmengen, die täglich auf Online-Plattformen hochgeladen werden, ist davon auszugehen, dass die Anbieter nur mit technologischen Mitteln – sogenannten Upload-Filtern – sicherstellen könnten, dass keine illegalen Inhalte auf ihren Seiten zu finden sind. Die wahrscheinliche Folge solcher Filter: Es wird mehr ausgesiebt und verhindert als nötig.
Noch gibt es keinen Entwurf für den Digital Services Act, aber seit Anfang des Jahres bereitet die Kommission diesen vor und konsultiert die Wirtschaft und andere Interessenvertreter und Experten. Der Entwurf wird dann für Anfang 2021 erwartet. Deutschland kann den Prozess während der Ratspräsidentschaft entscheidend beeinflussen und dem Gesetzentwurf seinen Stempel aufdrücken.
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