Es sind nur noch wenige Wochen, bis das BFSG viele Online-Händler dazu verpflichtet, ihre Websites und/oder Produkte barrierefrei zu gestalten. Ziel ist es, Menschen mit Behinderungen einen gleichberechtigten Zugang zum Online-Handel und bestimmten Produkten zu ermöglichen. Doch es gibt drei zentrale Ausnahmen, die unter bestimmten Voraussetzungen greifen können. In diesem Beitrag werden wir sie näher erklären.

Kleinstunternehmen im Dienstleistungsbereich

Das BFSG enthält besondere Ausnahmeregelung für Kleinstunternehmen, die Dienstleistungen anbieten, also beispielsweise einen Online-Shop betreiben. Diese Unternehmen sind unter bestimmten Voraussetzungen nicht verpflichtet, ihren Shop oder eine andere Dienstleistung barrierefrei zu gestalten. Die Ausnahme soll kleinere Betriebe mit begrenzten Ressourcen vor einer übermäßigen regulatorischen Belastung schützen, gilt jedoch nur in einem eng umrissenen Rahmen.

Damit die Ausnahme greift, müssen alle drei Kriterien gleichzeitig erfüllt sein:

  1. Das Unternehmen beschäftigt weniger als zehn Personen (die Berechnungsmethode haben wir bereits ausführlich erklärt).
  2. Der Jahresumsatz oder die Jahresbilanzsumme des Unternehmens unterschreitet zwei Millionen Euro.
  3. Es handelt sich um ein Unternehmen, das Dienstleistungen erbringt. Dazu zählen unter anderem digitale Angebote wie Online-Shops oder digitale Terminbuchungssysteme.

Diese Ausnahme richtet sich Betriebe mit geringen wirtschaftlichen und personellen Kapazitäten, die Online-Shops betreiben und keine größere technische Infrastruktur unterhalten. Für sie entfällt die Pflicht, ihre digitalen Angebote gemäß den Anforderungen des BFSG barrierefrei auszugestalten.

Aber Achtung: Die Ausnahme für Kleinstunternehmen gilt ausschließlich für die Dienstleistungen selbst, also den Shop als Absatzkanal. Für Produkte, die unter das Gesetz fallen (z. B. E-Book-Reader, Spielekonsolen, Computer), besteht keine Kleinstunternehmerausnahme. In solchen Fällen müssen auch kleinere Unternehmen die gesetzlichen Barrierefreiheitsanforderungen einhalten, zumindest für die Produkte selbst.

Beispiel: 
Susanne verkauft online Elektronikartikel, darunter auch Smartphones. Sie beschäftigt weder Personal noch hat sie einen nennenswerten Umsatz. Mit ihrem Online-Shop als solches fällt sie somit nicht unter das BFSG, sie muss ihn als kleine Unternehmerin nicht barrierefrei gestalten. Aber sie kann sich ihr Sortiment betreffend nicht auf die Ausnahme berufen. Sie darf in ihrem nicht-barrierefreien Online-Shop trotzdem nur barrierefreie Smartphones anbieten.

Wesentliche Veränderung des Produkts oder der Dienstleistung

Eine weitere Ausnahmeregelung im BFSG betrifft Fälle, in denen die Umsetzung der Barrierefreiheit dazu führen würde, dass ein Produkt oder eine Dienstleistung in seinem Wesen oder seiner Funktion wesentlich verändert würde. Diese Ausnahme soll verhindern, dass Barrierefreiheitsanforderungen Innovation, Funktionalität oder spezifische Charakteristika eines Angebots unverhältnismäßig einschränken.

Im Mittelpunkt steht hier die Frage, ob die Anpassung an Barrierefreiheitsstandards ein Produkt oder eine Dienstleistung so stark verändern würde, dass es nicht mehr in seiner beabsichtigten Form nutzbar oder marktfähig wäre. Es geht also weniger um wirtschaftliche Zumutbarkeit als vielmehr um die technische und funktionale Integrität des Angebots.

Beispiel:
Ein Start-up vertreibt eine ultraminimalistische Smartwatch, die bewusst auf akustische Signale, haptisches Feedback und physische Bedienelemente verzichtet. Die Integration barrierefreier Funktionen wie Sprachausgabe oder Vibrationsalarm würde das Designkonzept grundlegend verändern und die zentrale Produktidee – radikale Reduktion – zerstören. In diesem Fall kann eine Ausnahme wegen wesentlicher Veränderung des Produkts gerechtfertigt sein.

Diese Ausnahme (wesentliche Veränderung) ist im Bereich Online-Shops hingegen sehr selten anwendbar. Die meisten Shop-Systeme, Benutzeroberflächen oder Inhalte lassen sich mit vertretbarem Aufwand barrierefrei gestalten, ohne das „Wesen“ der Dienstleistung zu verändern. Nur bei sehr spezialisierten Angeboten mit starker gestalterischer oder funktionaler Einschränkung – etwa bei hochgradig individualisierten Anwendungen – könnte diese Ausnahme zur Anwendung kommen. Trotzdem gibt es Einzelfälle, in denen eine Berufung auf diese Ausnahme zumindest prüfbar sein könnte.

Schließlich gilt: Die Ausnahme muss begründet, dokumentiert und nachvollziehbar sein. Die Einschätzung, dass eine barrierefreie Umsetzung nicht möglich sei, muss auf einer konkreten Analyse beruhen – idealerweise ergänzt durch technische Bewertungen, Entwicklungsszenarien oder Marktstudien. Im Zweifelsfall obliegt es den Marktaufsichtsbehörden zu entscheiden, ob eine behauptete wesentliche Veränderung tatsächlich vorliegt.

Unverhältnismäßige wirtschaftliche Belastung

Eine weitere Ausnahme vom BFSG ergibt sich aus § 17 und betrifft Fälle, in denen die Umsetzung der Barrierefreiheitsanforderungen für ein Produkt oder den Shop für ein Unternehmen eine unverhältnismäßige wirtschaftliche Belastung darstellen würde. Zu den Kriterien, die für die Einordnung eine Rolle spielen, gehören z. B. die Kosten für zusätzliches Personal mit Fachkenntnissen im Bereich Barrierefreiheit oder Kosten im Zusammenhang mit der Prüfung des Produkts oder der Dienstleistung unter dem Aspekt der Barrierefreiheit. Diese Ausnahme ist bewusst eng gefasst und zielt auf Konstellationen ab, in denen die Kosten oder der Aufwand zur Umgestaltung eines Produktes in keinem vertretbaren Verhältnis zum wirtschaftlichen Nutzen oder zur Größe des Unternehmens stehen.

Um sich auf diese Ausnahme berufen zu können, muss das Unternehmen daher konkrete Nachweise erbringen. Dazu gehört in der Regel eine Wirtschaftlichkeitsanalyse, in der dargelegt wird, welche Investitionen erforderlich wären, wie hoch der laufende Aufwand wäre und warum dies – im Verhältnis zu Umsatz, Gewinn oder Unternehmensgröße – nicht tragbar erscheint. Die Beurteilung erfolgt nicht pauschal, sondern im Einzelfall. Unternehmen müssen ihre Einschätzung dokumentieren, aufbewahren und auf Verlangen gegenüber der zuständigen Marktüberwachungsbehörde offenlegen.

Beispiel:
Ein Start-up entwickelt ein einfaches E-Book-Lesegerät mit Fokus auf lange Akkulaufzeit und minimalistische Bedienung. Die barrierefreie Umrüstung – etwa mit Vorlesefunktion, Bildschirmvergrößerung und adaptiver Menüführung – würde neue Hardware-Komponenten, Lizenzkosten für Software und ein völlig neues Gehäusedesign erfordern. Die kalkulierten Kosten übersteigen den gesamten Jahresumsatz des Unternehmens.

Aber auch betreffend den Umbau des Shops ist diese Ausnahmeregelung meist wenig geeignet, das BFSG vom Tisch zu bekommen. Standardmaßnahmen wie die barrierefreie Gestaltung der Webseite nach gängigen Webstandards (z. B. WCAG) oder die Bereitstellung zugänglicher Inhalte (z. B. Alt-Attribute für Bilder) gelten in der Regel nicht als unzumutbar. Viele dieser Anpassungen können mit vertretbarem Aufwand umgesetzt werden und gelten nach dem Stand der Technik bereits als wirtschaftlich tragbar, auch für kleinere Unternehmen.

Beispiel:
Ein Online-Shop für Designmöbel betreibt eine individuell programmierte Website auf Basis eines veralteten CMS, das keine barrierefreien Funktionen unterstützt. Die technische Umstellung auf ein barrierefreies System würde rund 45.000 Euro kosten, einschließlich Softwarewechsel, Designüberarbeitung und inhaltlicher Anpassungen. Das Unternehmen beschäftigt über zehn Mitarbeitende und erzielt jährlich einen Umsatz von über zwei Millionen Euro, fällt also nicht unter die Kleinunternehmerregelung. Obwohl der Aufwand spürbar ist, handelt es sich im Verhältnis zur Unternehmensgröße und zum Umsatz um eine vertretbare Investition, die mit üblichen Modernisierungskosten vergleichbar ist. Die Voraussetzungen für eine Ausnahme wegen unverhältnismäßiger wirtschaftlicher Belastung sind in diesem Fall voraussichtlich nicht erfüllt, da weder eine Existenzgefährdung noch eine klare wirtschaftliche Unzumutbarkeit erkennbar ist.

Weitere Informationen rund um die Barrierefreiheit findest du auf unserer Themenseite Barrierefreiheit.

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