Oliver Bäte, CEO des Versicherungskonzerns Allianz, hat sich für die Streichung der Lohnfortzahlung am ersten Krankheitstag ausgesprochen. Er kritisierte, dass die Krankentage deutscher Beschäftigter mittlerweile höher ausfallen würden als im restlichen Europa. „Ich schlage vor, den Karenztag wieder einzuführen. Damit würden die Arbeitnehmer die Kosten für den ersten Krankheitstag selbst tragen“, empfahl er als Gegenmaßnahme in einem Interview mit dem Handelsblatt. „Deutschland ist mittlerweile Weltmeister bei den Krankmeldungen. Das erhöht die Kosten im System. Wir müssen uns überlegen, wie wir damit umgehen, und es sozial gerecht gestalten“, meint Bäte.

In Deutschland ist es derzeit so geregelt, dass Arbeitnehmer:innen im Krankheitsfall von ihrer Pflicht zur Arbeit befreit sind und ab dem ersten Krankheitstag weiter ihr Gehalt erhalten. Arbeitnehmer:innen haben dann die Pflicht, innerhalb von drei Kalendertagen eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorzulegen – diese Frist stellt allerdings keine Karenztagregelung dar. Durch einen Karenztag wäre der Arbeitgeber stattdessen von seiner Pflicht zur Lohnfortzahlung ab dem ersten Krankheitstag befreit.

Wirtschaftliche Folgen durch hohen Krankenstand  

Unter anderem Mercedes und der E-Autohersteller Tesla monierten in ihren Werken viele krankheitsbedingte Ausfälle. Tesla ging sogar einen Schritt weiter: Vorgesetzte statteten kranken Mitarbeitenden in der Vergangenheit einen Hausbesuch ab, um deren Krankenstand persönlich zu prüfen.

Aus Sicht von Mercedes-Chef Ola Källenius seien die Krankheitskosten wettbewerbsrelevant: „Der hohe Krankenstand in Deutschland ist ein Problem für die Unternehmen“, sagte er im Herbst des vergangenen Jahres dem Spiegel. „Wenn unter gleichen Produktionsbedingungen der Krankenstand in Deutschland teils doppelt so hoch ist wie im europäischen Ausland, hat das wirtschaftliche Folgen.“

Als Grund für den höheren Krankenstand wird auf Arbeitgeberseite unter anderem die telefonische Krankschreibung angesehen. Die Möglichkeit trage dazu bei, dass sich Arbeitnehmende schneller krankmelden, so die Kritik. Das arbeitgebernahe Institut der Deutschen Wirtschaft forderte daher deren Einschränkung. Auch die Chefin der Wirtschaftsweisen, Monika Schnitzer, sprach sich für ein Ende der telefonischen Krankschreibung aus und befürwortete die Prüfung zur Wiedereinführung von Karenztagen, berichtete zdf-heute.  

Sind die Deutschen tatsächlich häufiger krank?

Allianz-Chef Bäte nennt hohe Zahlen zum Krankenstand: Deutsche Arbeitnehmer:innen sind wären durchschnittlich 20 Tage im Jahr krank, der EU-Durchschnitt falle mit acht Krankheitstagen geringer aus. Die Techniker Krankenkasse meldete Ende Dezember, dass der Krankenstand in den ersten elf Monaten 2024 mit im Schnitt 17,7 Tagen auf einem neuen Rekordhoch gelegen habe.

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) widerspricht derartigen Rekordzahlen. Deren Daten zufolge fehlten Beschäftigte 2023 im Schnitt 6,8 Prozent ihrer Arbeitszeit krankheitsbedingt, das sei so häufig wie vor der Corona-Pandemie in den Jahren 2015 bis 2019. Die Rekordwerte seien demnach „zum größten Teil ein rein statistischer Effekt“, erklärt der OECD-Arbeitsmarktexperte Christopher Prinz laut der Ärzte-Zeitung. Bis 2021 mussten Arbeitnehmer die Krankschreibungen bei ihrer Krankenkasse einreichen, seit dem 1. Januar 2022 ist die elektronische Übermittlung für Arztpraxen Pflicht, wodurch die Krankentage zuverlässiger erfasst werden. Seit diesem Zeitpunkt schnellten die Krankenstände in der Statistik in die Höhe. 

Vorschlag „zutiefst ungerecht“   

Auf die Erhebungen der OECD stützt sich auch Anja Piel aus dem Vorstand des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB). Danach gebe es keinen dramatischen Anstieg der Fehlzeiten in Deutschland – weder im Vergleich mit anderen EU-Staaten, noch im Zeitverlauf. „Die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ist ein soziales Schutzrecht, das ab dem ersten Krankheitstag gilt. Nur so ist gewährleistet, dass kranke und erholungsbedürftige Beschäftigte tatsächlich gesund werden können“, erklärt Piel. Sie bezeichnete den Vorschlag aus der Wirtschaft als „zutiefst ungerecht“. Viele Menschen würden eher trotz Krankheit arbeiten gegen, wodurch sie Kolleg:innen schneller anstecken können. Diese Folgekosten fallen doppelt so hoch wie die Kosten krankheitsbedingter Fehlzeiten aus. „Finanzielle Auswirkungen einer alternden Gesellschaft gehören keinesfalls alleine auf den Rücken der Beschäftigten, um im Umkehrschluss Arbeitgeber zu entlasten“, so Piel.

Mit Unverständnis reagierte auch die IG Metall. „Den Beschäftigten Krankmacherei zu unterstellen, ist unverschämt und fatal“, so Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban. „Wer Karenztage aus der Mottenkiste holt, greift die soziale Sicherheit an und fördert verschleppte Krankheiten. Die deutsche Wirtschaft gesundet nicht mit kranken Beschäftigten, sondern im Gegenteil mit besseren Arbeitsbedingungen.“ Dass Krankmeldungen eng mit den Bedingungen verknüpft sind, unterstreicht auch der Gesundheitsreport des BKK-Dachverbands, der unter anderem auf regionale Besonderheiten blickt: „Im Osten gibt es traditionell mehr Krankschreibungen“, erklärt Franz Knieps, Vorstandsvorsitzender des BKK-Dachverbands, gegenüber der Zeit. Im Süden und Westen seien es weniger – wo auch die Arbeitsbedingungen oft besser seien. 

Gemischte Reaktionen aus der Politik

„Der Vorschlag zur Einschränkung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zeigt, wie weit manche Personen von der Realität der arbeitenden Bevölkerung entfernt sind“, kritisiert SPD-Bundestagsabgeordnete Dagmar Schmidt und betont, dass die Partei an dem Schutzrecht zur Lohnfortzahlung festhalten werde.

In der Union fielen die Reaktionen auf den Vorschlag unterschiedlich aus, meldet u. a. n-tv mit Verweis auf Aussagen gegenüber dem Nachrichtenportal Politico. Sepp Müller (CDU), stellvertretender Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, ist der Auffassung, dass die Idee eines Karenztages vor dem Hintergrund der Belastung deutscher Sozialsysteme diskutiert werden sollte. Der gesundheitspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Tino Sorge (CDU) erklärte hingegen: „Nur die allerwenigsten Menschen melden sich aus Spaß krank“ und forderte belastbarere Daten.

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