Bürokratie im Arbeitsschutz: Was Unternehmen wirklich brauchen

Veröffentlicht: 14.04.2025
imgAktualisierung: 14.04.2025
Geschrieben von: Hanna Behn
Lesezeit: ca. 6 Min.
14.04.2025
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Mitarbeiterin mit Warnweste und Mitarbeiter mit Helm stehen neben einem Gabelstapler in einem Logistiklager
halfpoint / Depositphotos.com
Unfallrisiken zu reduzieren, ist für Betriebe essenziell. Doch nicht alle Vorgaben sind zielführend, so Arbeitsschutzexperte Stefan Ganzke.


Arbeitsschutzvorschriften in Unternehmen dienen dazu, Verletzungsrisiken zu minimieren und Ausfälle zu reduzieren. Da mit ihnen auch ein gewisser bürokratischer Aufwand einhergeht, sind sie nicht allerorten gern gesehen. Überspitzt spiegelt sich dies in einer Äußerung von CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann in der ZDF-Sendung Maibritt Illner Mitte März. Der Politiker bezeichnete Prüfvorgaben von Leitern als „Quatsch“, die mit der Begründung „Misstrauen des Staates gegenüber seinen Bürgern“ abgeschafft werden sollten.

Organisationen wie der Verband für Sicherheit, Gesundheit und Umweltschutz bei der Arbeit (VDSI) reagierten empört. Die regelmäßige Prüfung von Leitern sei keine überflüssige Bürokratie, sondern sowohl gesetzlich vorgeschrieben als auch wissenschaftlich begründet, erklärte der Verband. Defekte oder ungeprüfte Leitern würden jedes Jahr zu zahlreichen Unfällen führen. „Diese Regeln schützen Menschenleben. Wer sie abschaffen will, ignoriert die Realität im Arbeitsschutz“, so Margrit Stuhr, kommissarische Vorstandsvorsitzende des VDSI. „Bürokratieabbau darf nicht zum Sicherheitsabbau werden“, kritisiert sie.

Linnemanns Aussage wirft einige grundsätzliche Fragen zum Thema Arbeitsschutz auf: Sind die Vorschriften realitätsfern? Was kann helfen, damit Vorgaben in der Praxis umsetzbar sind und Betriebe und Mitarbeitende nicht überfordern? Darüber haben wir mit Stefan Ganzke, Arbeitsschutzexperte beim Beratungsunternehmen WandelWerker, gesprochen.

Schulung zum Büro-Tacker? – Arbeitsschutz kennt Nuancen

OnlinehändlerNews: Welchen Stellenwert hat Arbeitsschutz Ihrer Meinung nach in deutschen Unternehmen?

Stefan Ganzke: Der Stellenwert des Arbeitsschutzes in deutschen Unternehmen ist unterschiedlich. Im Gesamtkontext zeigt sich seit den 1990er Jahren eine deutliche Verbesserung bei der Anzahl der Arbeitsunfälle, die dazu führen, dass Menschen länger als drei Tage am Arbeitsplatz fehlen. Insbesondere durch die Einführung des Arbeitsschutzgesetzes mit der Verpflichtung zur Erstellung von Gefährdungsbeurteilungen sowie der Maschinenrichtlinie ist es gelungen, die Anzahl der meldepflichtigen Arbeitsunfälle von rund 1,6 Millionen auf mittlerweile unter 800.000 zu reduzieren.

In mittelständischen Unternehmen und Konzernen, die im Bereich des produzierenden und produktionsnahen Tätigkeitsfeldes tätig sind, besitzt das Thema Arbeitsschutz bereits einen höheren Stellenwert. Sicherlich mag es auch hier Ausnahmen geben. Im Bereich der Verwaltung gibt es sowohl im Mittelstand als auch in den Konzernen häufig noch Luft nach oben. In kleineren Unternehmen sieht es oftmals anders aus: Hier ist der Stellenwert des Arbeitsschutzes noch nicht so hoch, wie er sein sollte. Dabei wirkt sich der Ausfall von Mitarbeitern in diesen Unternehmen besonders schmerzlich aus.

Welche Arbeitsschutzvorschriften halten Sie für sinnvoll und notwendig – und welche sind aus Ihrer Sicht realitätsfern?

Als Sicherheitsingenieur und Sicherheitskultur-Berater sehe ich natürlich, dass überall dort, wo Menschen zusammenarbeiten, auch rechtliche Vorgaben vorhanden sein müssen. Menschen brauchen nun einmal gewisse Leitplanken. Entgegen einigen Meinungen gibt es bei den meisten Regelungen im Arbeitsschutz keine Schwarz-Weiß-Denkweise. Bereits heute haben Unternehmen die Möglichkeit, mit einem sinnbildlichen Regler Maßnahmen für sich zu definieren. Es braucht das Sicherheitsbewusstsein und die Risikokompetenz der Beteiligten, um mit diesem Regler umgehen zu können. Ein gutes Beispiel ist die Prüfung von ortsveränderlichen elektrischen Betriebsmitteln. Diese muss nicht zwingend jährlich durch eine befähigte Person durchgeführt werden. Was auf der Baustelle beispielsweise Sinn macht, muss im Büro nicht zwingend auch sinnvoll sein. Hier kann ein Unternehmen die Prüffristen für sich anpassen.

In der Wahrnehmung von Führungskräften und Mitarbeitern wird der Arbeits- und Gesundheitsschutz häufig nur dann wahrgenommen, wenn ein Unternehmen versucht, 100 Prozent rechtskonform zu werden. In Jahresunterweisungen wird dann beispielsweise anhand von 100 bis 150 PowerPoint-Folien alles bis ins kleinste Detail geschult, bis hin zur Kaffeemaschine und dem Büro-Tacker. Genau hier beginnt die Notwendigkeit, den bereits genannten Regler zu nutzen. 100 Prozent Sicherheit und Rechtskonformität wird es sehr wahrscheinlich sowieso nie geben.

So sieht Überregulierung in der Praxis aus

Gibt es bestimmte Branchen oder Betriebsgrößen, die unter einer Überregulierung beim Arbeitsschutz leiden? Wie sieht dies beispielsweise bei E-Commerce-Unternehmen aus?

Im Grundsatz steht der Aufwand für den Arbeits- und Gesundheitsschutz im Wesentlichen im Zusammenhang mit den Tätigkeiten, die im Unternehmen durchgeführt werden. Es wird hierbei deutlich, dass in Verwaltungsbereichen weniger Aktivitäten erforderlich sind als beim Abfüllen von Gefahrstoffen oder im Logistikbetrieb. Am Beispiel eines E-Commerce-Unternehmens sieht das genauso aus. Sind allein Büroarbeitsplätze vorhanden, müssen nur sehr wenige Regelungen beachtet werden. Kommt eine Lagernutzung oder Spedition hinzu, steigen natürlich die Anforderungen. Auch hier gilt es, mit einem guten Fingerspitzengefühl an die Gefährdungsbeurteilung heranzugehen.

Können Sie konkrete Fälle und/oder Beispiele schildern, in denen die Vorschriften Unternehmen eher behindern, als den Mitarbeitenden zu helfen?

Dass Vorschriften Unternehmen eher behindern, als sie den Mitarbeitern helfen, würde ich in den meisten Fällen nicht sagen. Es gibt allerdings Auslegungen von Inhalten, die nicht besonders förderlich für das eigenverantwortliche Arbeiten von Führungskräften und Mitarbeitern sind oder auch zu Unverständnis führen.

Es lässt sich beispielsweise den 50-jährigen Mitarbeitern nur schwer erklären, warum eine Unterweisung zum Thema Mutterschutz erfolgt, wenn im Produktionsbereich keine Frau tätig ist. Weiterhin sorgt es für Unverständnis, wenn elektrische Betriebsmittel, die neu gekauft werden und eine CE-Kennzeichnung besitzen, vor der Nutzung durch eine befähigte Person elektrisch geprüft werden müssen. Insbesondere für kleinere Unternehmen, die vielleicht ab und an mal elektrische Arbeitsmittel wie Bildschirme, Bohrmaschinen oder ähnliches beschaffen, ist dieser Vorgang kaum realisierbar. 

Regelwerke sind schwer verständlich

Wo sehen Sie politische Spielräume für eine Entbürokratisierung im Arbeitsschutz? Wie könnte eine praxisnahe Arbeitsschutzpolitik aussehen?

Eine praxisnahe Arbeitsschutzpolitik umfasst aus meiner Sicht die Hilfe zur Selbsthilfe in den Unternehmen. Die Regelwerke sind oft nicht leicht verständlich geschrieben, sodass es viele Interpretationsmöglichkeiten gibt. Diese führen dazu, dass einige Unternehmen Maßnahmen einleiten, die in keinem sinnvollen Aufwand-Nutzen-Verhältnis stehen, was bei den Mitarbeitenden nur Kopfschütteln auslöst. Dazu gehören beispielsweise Regeln wie die, dass beim Telefonieren auf dem Betriebsgelände nicht gegangen werden darf. Eine solche Regel gibt es nicht vom Gesetzgeber, sondern wird von Unternehmen in Eigenregie eingeführt. Es braucht mehr Befähigung von Management und Führungskräften, die vorhandenen Möglichkeiten wirksam zu nutzen, ohne die Organisation und die Mitarbeitenden zu überfordern.

Wie viel Eigenverantwortung können und sollten Unternehmen im Arbeitsschutz übernehmen?

Die Eigenverantwortung für den Arbeits- und Gesundheitsschutz liegt heute bereits auf einem hohen Niveau, und das ist auch gut so. In vielen Fällen braucht es jedoch die Befähigung, mit dieser Eigenverantwortung wirksam umzugehen. Das bedeutet, auf Basis von Gefährdungsbeurteilungen einen geeigneten Weg für die Menschen und die Organisation des Unternehmens zu finden, ohne hohe vermeidbare bürokratische Hürden und Überforderungen zu schaffen.

Spielt die Unternehmenskultur eine Rolle im Arbeitsschutz? Kann sie bestimmte Vorschriften ersetzen?

Die Sicherheits- und damit auch die Unternehmenskultur haben einen entscheidenden Einfluss darauf, inwiefern Regeln beachtet und eingehalten werden. Insbesondere wenn im Unternehmen mehrheitlich kein Interesse am Arbeits- und Gesundheitsschutz besteht, sind mehr Regeln nötig. Diese können in einem vertretbaren Maß reduziert werden, sobald ein persönlicher, intrinsischer Antrieb für den Arbeits- und Gesundheitsschutz mehrheitlich vorhanden ist. Der Wechsel von einer regelorientierten zu einer sozialen Kultur ist dabei von großer Bedeutung.

Vielen Dank für das Gespräch!


Über den Interviewpartner

WandelWerker Consulting GmbHStefan Ganzke ist zusammen mit Anna Ganzke Gründer und Geschäftsführer der WandelWerker Consulting GmbH. Gemeinsam mit ihrem Team unterstützen die beiden mittelständische Unternehmen und Konzerne dabei, die Arbeitsunfälle kontinuierlich und nachhaltig zu senken sowie eine gelebte Arbeitsschutzorganisation zu entwickeln.

Artikelbild: http://www.depositphotos.com

Veröffentlicht: 14.04.2025
img Letzte Aktualisierung: 14.04.2025
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Hanna Behn

Hanna Behn

Expertin für Handel & Unternehmertum

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1 Kommentare
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cf
15.04.2025

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Meinung: Arbeitssicherheit ist wichtig, ich sehe hier nur zwei große Hürden: 1. Es müsste eine klare und leicht verständliche Liste (einfache Sprache) der Anforderungen für unterschiedliche Bereiche geben, z.B. Checkliste für Büroarbeitsflächen, Checkliste für Produktionsräume, etc., die dann einfach abgehakt oder mit sehr kurzen Kommentaren jährlich durchgegangen werden können. 2. Ist im ersten Punkt schon enthalten, denn der Dokumentationsaufwand ist teils enorm. Belege für jede einzelne Schulung, Beleuchtungs- & Oberflächenreflektionsmessungen von Büroplätzen, etc, etc. Natürlich will niemand im dunkeln sitzen und keiner nutzt Spiegel als Schreibtischplatten, daher sollten die Vorschriften alle einmal auf Sinnhaftigkeit durchgeprüft und Richtwerte ggf. etwas angepasst werden.