Arbeitsschutzvorschriften in Unternehmen dienen dazu, Verletzungsrisiken zu minimieren und Ausfälle zu reduzieren. Da mit ihnen auch ein gewisser bürokratischer Aufwand einhergeht, sind sie nicht allerorten gern gesehen. Überspitzt spiegelt sich dies in einer Äußerung von CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann in der ZDF-Sendung Maibritt Illner Mitte März. Der Politiker bezeichnete Prüfvorgaben von Leitern als „Quatsch“, die mit der Begründung „Misstrauen des Staates gegenüber seinen Bürgern“ abgeschafft werden sollten.
Organisationen wie der Verband für Sicherheit, Gesundheit und Umweltschutz bei der Arbeit (VDSI) reagierten empört. Die regelmäßige Prüfung von Leitern sei keine überflüssige Bürokratie, sondern sowohl gesetzlich vorgeschrieben als auch wissenschaftlich begründet, erklärte der Verband. Defekte oder ungeprüfte Leitern würden jedes Jahr zu zahlreichen Unfällen führen. „Diese Regeln schützen Menschenleben. Wer sie abschaffen will, ignoriert die Realität im Arbeitsschutz“, so Margrit Stuhr, kommissarische Vorstandsvorsitzende des VDSI. „Bürokratieabbau darf nicht zum Sicherheitsabbau werden“, kritisiert sie.
Linnemanns Aussage wirft einige grundsätzliche Fragen zum Thema Arbeitsschutz auf: Sind die Vorschriften realitätsfern? Was kann helfen, damit Vorgaben in der Praxis umsetzbar sind und Betriebe und Mitarbeitende nicht überfordern? Darüber haben wir mit Stefan Ganzke, Arbeitsschutzexperte beim Beratungsunternehmen WandelWerker, gesprochen.
Schulung zum Büro-Tacker? – Arbeitsschutz kennt Nuancen
OnlinehändlerNews: Welchen Stellenwert hat Arbeitsschutz Ihrer Meinung nach in deutschen Unternehmen?
Stefan Ganzke: Der Stellenwert des Arbeitsschutzes in deutschen Unternehmen ist unterschiedlich. Im Gesamtkontext zeigt sich seit den 1990er Jahren eine deutliche Verbesserung bei der Anzahl der Arbeitsunfälle, die dazu führen, dass Menschen länger als drei Tage am Arbeitsplatz fehlen. Insbesondere durch die Einführung des Arbeitsschutzgesetzes mit der Verpflichtung zur Erstellung von Gefährdungsbeurteilungen sowie der Maschinenrichtlinie ist es gelungen, die Anzahl der meldepflichtigen Arbeitsunfälle von rund 1,6 Millionen auf mittlerweile unter 800.000 zu reduzieren.
In mittelständischen Unternehmen und Konzernen, die im Bereich des produzierenden und produktionsnahen Tätigkeitsfeldes tätig sind, besitzt das Thema Arbeitsschutz bereits einen höheren Stellenwert. Sicherlich mag es auch hier Ausnahmen geben. Im Bereich der Verwaltung gibt es sowohl im Mittelstand als auch in den Konzernen häufig noch Luft nach oben. In kleineren Unternehmen sieht es oftmals anders aus: Hier ist der Stellenwert des Arbeitsschutzes noch nicht so hoch, wie er sein sollte. Dabei wirkt sich der Ausfall von Mitarbeitern in diesen Unternehmen besonders schmerzlich aus.
Welche Arbeitsschutzvorschriften halten Sie für sinnvoll und notwendig – und welche sind aus Ihrer Sicht realitätsfern?
Als Sicherheitsingenieur und Sicherheitskultur-Berater sehe ich natürlich, dass überall dort, wo Menschen zusammenarbeiten, auch rechtliche Vorgaben vorhanden sein müssen. Menschen brauchen nun einmal gewisse Leitplanken. Entgegen einigen Meinungen gibt es bei den meisten Regelungen im Arbeitsschutz keine Schwarz-Weiß-Denkweise. Bereits heute haben Unternehmen die Möglichkeit, mit einem sinnbildlichen Regler Maßnahmen für sich zu definieren. Es braucht das Sicherheitsbewusstsein und die Risikokompetenz der Beteiligten, um mit diesem Regler umgehen zu können. Ein gutes Beispiel ist die Prüfung von ortsveränderlichen elektrischen Betriebsmitteln. Diese muss nicht zwingend jährlich durch eine befähigte Person durchgeführt werden. Was auf der Baustelle beispielsweise Sinn macht, muss im Büro nicht zwingend auch sinnvoll sein. Hier kann ein Unternehmen die Prüffristen für sich anpassen.
In der Wahrnehmung von Führungskräften und Mitarbeitern wird der Arbeits- und Gesundheitsschutz häufig nur dann wahrgenommen, wenn ein Unternehmen versucht, 100 Prozent rechtskonform zu werden. In Jahresunterweisungen wird dann beispielsweise anhand von 100 bis 150 PowerPoint-Folien alles bis ins kleinste Detail geschult, bis hin zur Kaffeemaschine und dem Büro-Tacker. Genau hier beginnt die Notwendigkeit, den bereits genannten Regler zu nutzen. 100 Prozent Sicherheit und Rechtskonformität wird es sehr wahrscheinlich sowieso nie geben.
So sieht Überregulierung in der Praxis aus
Gibt es bestimmte Branchen oder Betriebsgrößen, die unter einer Überregulierung beim Arbeitsschutz leiden? Wie sieht dies beispielsweise bei E-Commerce-Unternehmen aus?
Im Grundsatz steht der Aufwand für den Arbeits- und Gesundheitsschutz im Wesentlichen im Zusammenhang mit den Tätigkeiten, die im Unternehmen durchgeführt werden. Es wird hierbei deutlich, dass in Verwaltungsbereichen weniger Aktivitäten erforderlich sind als beim Abfüllen von Gefahrstoffen oder im Logistikbetrieb. Am Beispiel eines E-Commerce-Unternehmens sieht das genauso aus. Sind allein Büroarbeitsplätze vorhanden, müssen nur sehr wenige Regelungen beachtet werden. Kommt eine Lagernutzung oder Spedition hinzu, steigen natürlich die Anforderungen. Auch hier gilt es, mit einem guten Fingerspitzengefühl an die Gefährdungsbeurteilung heranzugehen.
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