Von vornherein ist klar: Ein wirklich realistisches Bild darüber, wie es genau bei Amazon abläuft, werden wir an diesem Tag nicht bekommen. Das ist die Regel, wenn Konzerne zum Pressetag einladen. Natürlich will sich jedes Unternehmen möglichst positiv der Öffentlichkeit präsentieren, also geht man davon aus, dass die weniger positiven Seiten ein wenig unter den Teppich gekehrt werden.
Vor allem bei Amazon hofft man doch, wenn man den üblichen Medienberichten glaubt, dass der vorhandene Teppich besonders groß ist. Niedriglöhne, Saisonarbeiter, befristete Verträge, keine ausreichenden Sanitäranlagen, endlos lange Laufwege, keine Pausen. All das sind Vorwürfe, die man immer wieder in Verbindung mit Amazon und anderen Versandhändlern gehört hat.
Die negativen Seiten werden nicht erwähnt
Mit einer Mischung aus Erwartungsfreude, Misstrauen, Vorsicht und Skepsis ging es also ins das Logistikzentrum von Amazon in Leipzig. Vor dem Gebäude hatte sich spontan die Verdi aufgebaut und gab bereits Interviews für MDR und dpa. Kaum eine bessere Möglichkeit, die eigenen Ziele noch einmal pressewirksam zu proklamieren und den Medienvertretern Inspiration für kritische Fragen zu geben.
Im Eingangsbereich von Amazon muss man zunächst die Uhrzeit der Ankunft eintragen, damit am Ende kontrolliert werden kann, ob sich jemand im Lager verlaufen hat. Ein im Grunde einladender Eingangsbereich, der einen offenen Blick in das Logistikzentrum bietet. Und direkt auf der linken Seite zwei Dinge: Sanitäranlagen und ein Whiteboard für Anmerkungen und auch Beschwerden der Mitarbeiter.
Zunächst wurde den Pressevertretern dann der Standort an sich vorgestellt. Standortleiter Dietmar Jüngling und Senior Public Relations Manager Anette Nachbar erklärten in einer kleinen Einführung die Geschichte des Unternehmens und des Standorts speziell.
Und natürlich wurde hier der erste Verdacht, dass Amazon sich in einem besonders guten Licht präsentieren will, bestätigt: So wurde der Umsatz präsentiert, die hohen Verluste aber verschwiegen. Zudem betätige man sich gemeinnützig in der Region, habe Kindle-Geräte als Preis eines Wettbewerbs an Schulklassen verliehen. Man tue zudem alles für den Kunden – nur 100 Prozent Zufriedenheit sei genug. Dass das auch zu Lasten der Händler geht, wurde ebenfalls nicht erwähnt. Kritische Fragen werden beantwortet, wobei man nicht den Eindruck hat, dass fadenscheinige Ausreden präsentiert werden. Öffentlichkeitsarbeit aus dem Bilderbuch.
Ein Bild von Normalität... aber ist das wirklich die komplette Wahrheit?
Nun gut, die Geschichtsstunde und Selbstdarstellung soll ja auch nicht die Hauptattraktion des Tages sein. Der Gang durch die Lagerhallen wartet. Die Hallen, in denen unzufriedene Mitarbeiter kilometerlange Strecken unter enormen Zeitdruck zurücklegen müssen, in denen einige schon zusammengeklappt sind, immer dem Druck des tragbaren Scanners ausgesetzt. Es geht in das Zentrum des Bösen….
Und entgegen kommen uns freundliche, ja, fröhliche Menschen. In der riesigen Lagerhalle herrscht reger Betrieb, aber gehetzt wirkt niemand. Die Picker sammeln in aller Ruhe ihre Produkte aus den Regalen. Viele, die wir treffen, sind dabei erst seit ein oder zwei Tagen im Betrieb. Welchen Mitarbeiter wir interviewen wollen, bleibt völlig uns überlassen – ein Versuch, noch einmal die Authentizität der Antwort zu unterstreichen. Nur leider trauen sich die neuen Mitarbeiter ein Interview nicht zu.
Und wo ist sie nun, die Ungerechtigkeit und die Unzufriedenheit? Man kann sie nicht erkennen. Gut möglich, dass der Schichtwechsel, der die Hallen gerade geleert hat, perfekt getimt war. Gut möglich, dass man uns absichtlich auf jene Ebene gelotst hat, auf der gerade die neuen Mitarbeiter unterwegs waren. Was auch immer der Grund war, Amazon wirkte wie ein völlig normaler Betrieb.
Dass ich aber das wirklich wahre Bild der Arbeit dort gewonnen habe, kann ich nicht ganz für mich unterschreiben.
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