KI, Nachhaltigkeit, Omnichannel oder Kundenfokus?  Der Anfang eines neuen Jahres ist immer wieder ein guter Zeitpunkt, einen Ausblick auf die kommenden Monate zu wagen. Welche Entwicklungen werden uns im Online-Handel 2024 begleiten oder herausfordern? 

Zum Jahreswechsel haben wir verschiedene Stimmen von Expert:innen aus der Digital-, Marketing- und E-Commerce-Branche, etwa von Google, Shopify, Momox und weiteren Unternehmen, gesammelt. Anhand ihrer Einschätzungen und Erwartungen lassen sich so einige wichtige Themen identifizieren – ein Überblick.

Konjunkturschwaches Umfeld verlangt einmal mehr effizientes Handeln

Allem voran bleibt das wirtschaftliche Umfeld für den Handel herausfordernd: Die Inflation im vergangenen Jahr lag im Schnitt bei 5,9 Prozent und wird sich auch in diesem Jahr noch nicht so schnell wieder auf ein Normalniveau einpendeln. Dies sorgt weiterhin für eine eher gedämpfte Konsumstimmung und Vorsicht vieler Verbraucher:innen. Gepaart mit einer schwächeren Wirtschaftsleistung in Deutschland heißt das für Handelsunternehmen, dass sie statt Wachstum eher auf ein profitabeles Geschäft setzten sollten. „In sieben der letzten neun Quartale ist der E-Commerce geschrumpft. Dieser Negativ-Trend wird sich fortsetzen, aber etwas langsamer als zuvor. Aus diesem Grund heißt das Fokusthema des Jahres: Profitabilität. Vor allem Retouren werden zum Lackmustest für das Geschäftsmodell von Online-Händlern“, erläutert etwa Philipp Spreer, Managing Partner beim E-Commerce-Beratungsunternehmen Elaboratum.

Auch Jeroen Leenders, Co-Founder des Kundenservice-Spezialisten Salesupply, ruft Handelstreibende dazu auf, Ausgaben und Prozesse genau zu prüfen: „Das Konsumklima wird angespannt bleiben. Die Einzelhändler müssen daher ihre (Fix-)Kosten senken, um das Risiko einer Insolvenz zu vermeiden. Das Gebot der Stunde lautet daher, die Effizienz zu steigern, wo immer dies möglich ist, ohne dabei Abstriche beim Kundenerlebnis zu machen.“ So müssen sich Unternehmen aktuell die Frage stellen: „Können wir die Kosten senken und denselben hohen Standard und dieselbe Flexibilität/Skalierbarkeit intern beibehalten oder sollten wir ein Outsourcing in Betracht ziehen?“, so Leenders. 

Trotz der allgemeinen Konjunkturschwäche gibt es merkliche Wachstumsbereiche im E-Commerce, meint Birk Angermann, Head of Revenue EMEA bei der Shopsoftware Shopify: „Das gilt insbesondere für das B2B-Online-Geschäft, das seit Jahren kontinuierlich wächst, in Deutschland laut Erhebung von Creditreform/Statista auf ein geschätztes Volumen von rund 1,8 Billionen Euro im Jahr 2023. Dieser Trend wird auch im kommenden Jahr weiter anziehen und bietet vor allem großen Unternehmen und Marken im Enterprise-Sektor enormes und nachhaltiges Potenzial für Wachstum, und zwar sowohl im B2B- als auch im D2C-Geschäft.“ 

Refurbish-Produkte – „das neue Bio“

Und auch ein weiterer Bereich erfreut sich längst wachsender Beliebtheit: der Handel mit Secondhandwaren und wiederaufbereiteten Produkten. „Wir beobachten im Handel einen steigenden Trend zu umweltbewusstem Konsum, insbesondere unter jungen Menschen. Refurbished ist hier das neue Bio“, sagt Tim Seewöster, Geschäftsführer des Anbieters für wiederaufbereite Elektronik Asgoodasnew. „Dieses wachsende Interesse fordert den Einzelhandel heraus, sich an die veränderten Kundenbedürfnisse anzupassen, mit dem Ziel, Verzichts- in Vorteilsdebatten umzuwandeln. Zudem sehe ich als weiteren Ansatz von Nachhaltigkeit, dass der nachhaltigste Händler der ist, der – wie asgoodasnew – auch selbst ‚produziert‘ bzw. wiederaufbereitet und somit unnötige Zwischenhändler vermeidet.“ 

Auch Armin Trunk, Berater bei Elaboratum, ist von dem Wachstum der Sparte überzeugt, besonders in Hinblick auf das Thema Nachhaltigkeit. „Daraus können neue Geschäftsmodelle entstehen − oder Re-Commerce wird in bestehende Unternehmensstrategien integriert werden.“ Ob es für ein bestehendes Handelsunternehmen eine gute Option ist, in den Bereich einzusteigen, ist vor allem eine Abwägungssache, erläutern etwa Expert:innen von Ebay und dem ECC Köln.

Stefan Klostermann vom bekannten Re-commerce-Unternehmen Momox ist diesbezüglich längst einen Schritt weiter – und steckt bereits in der Professionalisierung des Secondhandwaren-Geschäfts: „Der KI-Trend im E-Commerce zeichnet sich nicht nur durch das Geschäft mit neuen Produkten aus, sondern erstreckt sich auch auf den Online-Secondhand-Handel bzw. Re-Commerce“, so der CCO Books & Media bei Momox. „Eine der größten Herausforderungen in diesem Bereich liegt bisher darin, Waren in der Qualitätskontrolle schnell und eindeutig zuzuordnen – sei es die genaue Identifikation, Attribuierung oder Zustandserkennung von Produkten. 2024 werden Re-Commerce Händler immer stärker auf die Unterstützung von Künstlicher Intelligenz setzen, um solchen Herausforderungen zu begegnen. Ein Beispiel sind smarte Bilderkennungs-Softwares, die Waren schon beim Eingang selbstständig zuordnen können. Dies ermöglicht eine noch genauere und effizientere Gestaltung der Qualitätskontrolle und unterstützt Mitarbeiter:innen bei der manuellen Arbeit.“

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KI wird zur Basistechnologie für den Handel

Apropos künstliche Intelligenz – die ist im vergangenen Jahr bekanntermaßen in der Breite angekommen und wird nun in zahllosen Bereichen immer häufiger Einsatz finden. „Während Verbraucher:innen oft angeben, dass sie Künstlicher Intelligenz bei Einkäufen oder Empfehlungen (noch) nicht trauen, können wir bereits einen massiven Anstieg der KI-Nutzung im Arbeitsleben beobachten. Von der Content-Recherche bis zur Content-Produktion setzen viele Unternehmen heute schon KI-gestützte Tools ein. Dieser Trend wird sich fortsetzen und wir werden zunehmend Anwendungsfälle im privaten Kontext sehen“, meint Thomas Peham, VP of Marketing beim CMS-Anbieter Storyblok. Aus diesem Grund werde man 2024 viele technologische Veränderungen im Online-Handel beobachten können. „Dabei wird die Rolle des Marketings bei der Umsatzgenerierung natürlich nicht verschwinden – aber wir werden unsere Kampagnen drastisch anpassen müssen“, so Peham.  

Auch für Birk Angermann von Shopify ist KI künftig nicht mehr wegzudenken: „Der Handel verändert sich im Augenblick grundlegend und tiefgreifend, vor allem durch die rapide Entwicklung im Bereich der künstlichen Intelligenz. Diese Entwicklung wird sich im kommenden Jahr weiter beschleunigen und durchsetzen. KI wird aus meiner Sicht auch für den Handel zu einer Basistechnologie.“

Online- und Offline-Welt sind nicht mehr trennbar

Eindeutig vorbei ist es nach der Einschätzung der Branchenexpert:innen mit einer Trennung des stationären vom Online-Handel. Dr. Jannika Bock, Managing Director Retail bei Google, ist sich sicher, dass – neben der Nutzung von KI – vor allem das kanalübergreifende Shopping-Erlebnis weiter an Relevanz gewinnt: „Für die Transformation unserer Wirtschaft werden wir weiterhin ein wichtiger Partner sein und den Wandel aktiv mitgestalten. Ich blicke positiv auf die Innovationskraft des deutschen Handels. 2024 wird ein spannendes Jahr, angesichts neuer Technologien wie Künstlicher Intelligenz oder aber auch die verstärkte Verzahnung im Bereich Omnichannel“, erklärt die Handels- und Digitalexpertin. Händler:innen müssen beide Kanäle sinnvoll miteinander verbinden, rät auch Omar Tello, Co-Gründer und CEO des Softwareunternehmens Sensalytics: „Sinnvoll bedeutet hier auch: Mit den Interessen und dem persönlichen Kaufverhalten der Kundschaft entsprechend beraten. Datenanalyse im Online- und Offline-Handel bieten dafür die notwendige Grundlage und wird 2024 noch stärker genutzt werden. Wenn der Kunde sich von sich aus im Laden einscannt, beispielsweise per QR-Code, und ich als Händler die Größe, Kaufhistorie und mehr von meinem Kunden sehe, kann ich ihm das bestmögliche Erlebnis bieten, online wie offline.“

Dass Online- und Offline-Welt sich mehr verbinden, ergebe sich unter anderem durch die Konsumgewohnheiten jüngerer Leute: „Gen Z und Händler:innen treffen sich 2024 hybrid“, stellt Frederik Reim, Country Lead DACH beim B2B-Marktplatz Faire, klar. „Die digital sozialisierte Altersgruppe verfügt zum Teil über ein eigenes Einkommen, informiert sich in digitalen Communitys über Trends und Produkte, kauft aber zunehmend stationär ein.“ Eine Faire-Umfrage unter 1.000 Erwachsenen zwischen 18 bis 26 Jahren ergab, dass 61 Prozent von ihnen heute eher persönlich als online shoppen. „Die Grenze zwischen den beiden Welten verschwimmt nach unserer Erfahrung zusehends. So sind mittlerweile immer mehr stationäre Händler:innen auch online präsent, z. B. über einen Online-Shop oder über geschicktes Community-Management über Instagram, TikTok oder WhatsApp. Multichannel wird 2024 auch bei kleinen Unternehmen zum Standard werden“, so Reim.

Der Austausch rund ums Shopping in den sozialen Netzwerken wird gemeinhin als Social Commerce bezeichnet. Und dieser sei gekommen, um zu bleiben, registriert der CEO des lokalen Marktplatznetzwerks Ooblee Fabian Mischler: „Was seit Jahren Alltag in asiatischen Ländern ist, schwappt nun auch mehr und mehr nach Deutschland und Europa über. Gerade die Gen Z feuert diesen Trend noch weiter an.“ Gleichzeitig sei die junge Zielgruppe nicht daran interessiert, wo sie ihre Ware erhält, sondern nur, dass sich Shopping so bequem wie möglich in den Alltag integriert, meint Mischler. „Sogenannte Pocket Destination Apps, die als täglicher Begleiter des Alltags fungieren, werden 2024 auch im Commerce-Bereich immer relevanter werden. Bereichert durch soziale Features, z. B. gemeinsame Shopping-Erlebnisse, werden solche Commerce-Plattformen zukünftig den Markt bestimmen und für Händler:innen als Absatzkanal relevant.“ 

„Brandloyalität ist Geschichte“

Die stärkere Verzahnung der Kanäle hat Auswirkungen auf die Art des Marketings und des Brandings. Dafür eröffne Retail Media, also Werbung für Käufer:innen direkt am Point of Sale, neue Möglichkeiten für den Handel und Marken. Die Werbestrategie „ist in Zukunft nicht mehr nur für den E-Commerce relevant, sondern wird auch vermehrt im lokalen Handel eingesetzt werden, was einen angepassten Media-Mix erfordert“, prognostiziert Nicole Bucher, CMO des Netzwerks für digitales Handelsmarketing Offerista.  

Was und wie man, etwa die eigene Marke oder den Shop, bewirbt, sollte gut durchdacht sein. „Personal Brands bekommen eine immer größere Bedeutung. Unternehmen werden ihre Mitarbeiter:innen motivieren, eine persönliche Marke zu etablieren“, sagt Olga Andrienko, VP of Brand beim Marketing-Unternehmen Semrush. „Die Zeiten, in denen Brands alles für jeden sein konnten, sind vorbei. Innovationen, die echten Mehrwert bieten, werden hingegen stärker denn je nachgefragt. Schwierig bleiben die unvorhersehbaren externen Faktoren, die Industrie und Handel eine konkrete Planung weiterhin schwer machen“, ist sich auch Sebastian Bär, Gründer und CEO des Schuh-Labels Joe Nimble, sicher.

Sich zu sehr auf das eigene Branding zu stützen, ist laut Anton Eder jedoch auch nicht das Wahre. Der Co-Founder und CoS von ParcelLab – einem Anbieter, der die komplette Kommunikation für Händler:innen nach dem Kauf übernimmt – findet klare Worte: „Brand-Loyalität ist Geschichte. 2024 wird die Customer Experience mehr denn je über Kauf oder Nicht-Kauf entscheiden. An Prozesseffizienz und Customer Centricity kommt kein Händler mehr vorbei, wenn er diese krisenintensive Zeit überleben will.“ 

Fazit: Wer mehr zu bieten hat, setzt sich durch

Es dürfte also auf die gute alte Mischung aus allem hinauslaufen. Thomas Peham von Storyblok rät: „Als Unternehmen müssen wir uns auf die Markenbildung, das Marken-Sentiment und auch darauf konzentrieren, wie unsere Marke für unser ideales Kundenprofil (ICP) in den Vordergrund gerückt werden kann – das gilt für diejenigen, die bereits auf dem Markt sind, aber auch für diejenigen, deren Produkt oder Service noch kommt.“ 

In dem derzeitigen, eher stagnierenden Marktumfeld gilt es einmal mehr, sich professionell, kundenzentriert und kosteneffizient aufzustellen. Und es lohnt sich, so André Roitzsch, CEO des E-Commerce-Dienstleisters Shopmacher, eine Schippe draufzulegen: „Es wird auch in den nächsten Monaten branchenübergreifend schwierig bleiben. Das wird vor allem ein Problem für alle, die durchschnittlich sind. Weniger für all jene, die wirklich etwas zu bieten haben.“

Artikelbild: http://www.depositphotos.com

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