Chinas steigende Macht müsste in den vergangenen Jahren eigentlich jedem interessierten Bürger klar geworden sein: Oft genug wurde in den Medien und auf diversen Magazin-Covern etwa die „Geburt einer neuen Weltmacht“ abgefeiert. Und spätestens als Deutschland den sinnstiftenden Titel des Export-Weltmeisters verlor, war jedem klar: China, da passiert was Großes, vielleicht sogar Bedrohliches.
Meine persönliche Erfahrung mit der neuen Supermacht beschränkte sich lange Jahre auf putzige Mitbringsel aus verschiedenen Chinatowns und eine Zwischenlandung in Beijing. Die hat mich dann aber aus dem medialen Hype des Höhenflugs des mächtigen chinesischen Drachens doch etwas zurückgeworfen. An der Flughafen-Info wollte ich etwas wissen, auf Englisch. Der überforderte Mitarbeiter blieb stumm. In der Stadt machten viele Chinesen aus Hilflosigkeit eine prompte Kehrtwende, wenn man sie auf Englisch ansprach. Und das ist die neue internationale Supermacht?
Natürlich war der Eindruck verzerrt: Die persönliche Erfahrung kann nie Grundlage einer Verallgemeinerung sein. Und wirtschaftliche Kennwerte und individuelle Lebenslagen sind etwas Unterschiedliches – gerade in einem Land mit knapp 1,4 Milliarden Menschen. Denn in Wirklichkeit fliegt der chinesische Drache immer höher – jüngst sogar auf die dunkle Seite des Mondes, wie die erfolgreiche chinesische Raumfahrt-Mission zeigt, die dort als erstes eine Landung geschafft hat.
Das bedeutet Alibabas Vorstoß nach Europa
Einer der wichtigsten Faktoren und Zeichen für den Aufstieg des Landes ist Chinas Online-Gigant Alibaba. Dieser hat jetzt einen entscheidenden Schritt nach Europa gemacht: 2021 soll das neue Logistik-Zentrum im belgischen Lüttich starten und den Online-Handel in beide Richtungen auf ein neues Level heben. Das heißt einerseits: Europäische Mittelständler und Firmen hoffen auf die riesigen Absatzchancen in einer konstant wachsenden chinesischen Mittelschicht, die ein Auge auf westliche Markenware hat. Experten gehen davon aus, dass 2022 diese chinesische Mittelschicht etwa eine Milliarde Käufer umfassen könnte – das solle etwa der Kaufkraft der kompletten Europäischen Union entsprechen.
Andererseits könnten dann über den neuen Vorposten in Lüttich noch mehr chinesische Produkte auf den deutschen und den EU-Markt strömen. Ein sehr zweischneidiges Schwert, sind doch viele hiesige Online-Händler bereits jetzt ob der wachsenden Billig-Konkurrenz aus Fernost mindestens alarmiert bis abgeschreckt. Sei es wegen der Hinterziehung der Umsatzsteuer, die den eh schon bestehenden Preisvorteil unfair verschärft, oder anderer dubioser Methoden, unliebsame Konkurrenz auszustechen. Zusätzlich kursiert gerade auch das Gerücht einer möglichen Übernahme von Zalando durch Alibaba. Jack Mas Konzern wäre dann auf einen Schlag einer der größten deutschen Online-Händler und würde wichtige Einblicke in die deutsche Online-Käufer-Seele erhalten. Diese freut sich übrigens über den Ausbau von Alibabas Europageschäft: Laut einer repräsentativen YouGov-Umfrage begrüßt fast die Hälfte der Befragten die Expansion.
So will Jack Ma den weltweiten Online-Handel umkrempeln
Noch ist Alibaba vornehmlich eine B2B-Plattform – doch langfristig soll der globale Handel neu geordnet und die Hersteller direkt mit den Endkunden zusammengebracht werden, analysieren Experten im Handelsblatt. Jack Ma nennt sein Projekt die „electronic World Trade Platform“, kurz eWTP. Alibaba will in den nächsten fünf Jahren rund 13 Milliarden Dollar in die weltweite Expansion pumpen. In Bulgarien will Alibaba ein weiteres europäisches Drehkreuz bauen, weitere dürften folgen.
Für Online-Händler heißt das langfristig, ihr Geschäftsmodell neu zu arrangieren. Denn der neue Kanal könnte nicht nur billige Konkurrenz-Ware aus China bringen; europäische Hersteller könnten über Alibaba außerdem ohne Zwischenstationen an die chinesischen Kunden verkaufen, erwarten Experten. Online-Händler müssten dann vor allem auf ihren Erfahrungsvorsprung in Sachen Service und Mehrwerte setzen. Mit Alibabas ersten Fußstapfen in Europa wird eine neue Ära eingeleitet, in der allen klar sein sollte: Unterschätzen darf man auch diese neue Supermacht nicht mehr.
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