Die Uhr tickt. Am 31. Oktober 2019 soll das Vereinigte Königreich die Europäische Union verlassen. Und wenn es nach Boris Johnson geht, seit dem 24. Juli Premierminister Großbritanniens, dann gibt es daran nichts zu rütteln. Notfalls würden eben Gesetze gebrochen (siehe No-No-Deal-Gesetz und Rechtstreit). Aber der Reihe nach: Seit nunmehr drei Jahren und drei Monaten spalten sich die britische Gesellschaft, Regierung und das Parlament immer mehr im Streit darüber, wie die Zukunft des Inselkönigreichs aussehen soll. Anfang September hat dieser Streit zahlreiche Höhepunkte erreicht, bevor jetzt eine kurze Atempause eingelegt wurde. Ein guter Zeitpunkt, um sich vor der nächsten Hochphase zu sammeln und zu fragen: Wo stehen wir mit dem Brexit?
Alte Probleme, neue Regierung
Das Problem: Das britische Parlament kann sich nicht auf ein Abkommen mit der EU einigen. Die Regierung von Theresa May hatte ein Austrittsabkommen mit den Eurokraten verhandelt, aber im Parlament drei Mal keine Mehrheit für diesen Deal bekommen. Die Hardline-Brexiteers wollen den Backstop verhindern, die Sozialdemokraten und Liberalen am Liebsten den kompletten Brexit. Die neue britische Regierung will das Austrittsabkommen neu verhandeln, die EU schließt das kategorisch aus. Als letztes Druckmittel hat Johnson deswegen den No-Deal-Brexit, der ohne Abkommen stattfinden soll.
Die neue Regierung: Als Boris Johnson das Amt des Premierministers von Theresa May im Juli übernahm, nutzte er die Gelegenheit, um eine Regierung aus No-Deal-Hardlinern zu formen. Jacob Rees-Mogg, Dominic Raab, Dominic Cummings – sie alle sind dafür bekannt, kein Problem mit einem harten Brexit ohne Abkommen zu haben.
Parlamentsaussetzung: Der Aufschrei über die Aussetzung des Parlaments durch Boris Johnson war groß. Aber warum eigentlich? Eine kurze Pause des Parlaments im September und Oktober ist in Großbritannien eigentlich ein normaler Vorgang. Diese Pause markiert den Schluss einer britischen Legislaturperiode und wird vor allem für Parteitage und die Planung neuer politischer Initiativen genutzt. Die jetzige Schließung vom 9. September bis 14. Oktober ist allerdings die längste seit knapp 80 Jahren. Und natürlich ist allen klar, warum Johnson die Pause so lang angesetzt hat. „Egal wie es nun verpackt wird, es ist offensichtlich, dass der Grund für die jetzige Parlamentsschließung ist, das Parlament daran zu hindern über den Brexit zu sprechen”, stellte John Bercow, der Sprecher des britischen Unterhauses, fest.
Die erste Septemberhälfte war eine Katastrophe für Johnson
No-No-Deal-Gesetz: Das Parlament hatte klargemacht, sich nicht von der Parlamentsschließung beeindrucken zu lassen. Nach der Sommerpause kam das Unterhaus am 3. September zusammen und setzte im Schnellverfahren ein Gesetz durch, das besagt, dass die Regierung bei der EU eine weitere Verlängerung der Brexit-Frist beantragen muss, wenn es bis zum 19. Oktober keine Einigung auf ein Brexit-Abkommen gibt. Am 9. September wurde dies zu geltendem Recht in Großbritannien, an das sich die Regierung halten muss.
Mehrheiten: Das Vorgehen der Regierung, ihre Bereitschaft zum No-Deal-Brexit und eine von internem Mobbing und Druck geprägte Strategie der Regierung führte dazu, dass ein Abgeordneter der konservativen Partei Johnsons am 3. September zu den oppositionellen Liberalen wechselte. 21 weitere Konservative stimmten in den folgenden Abstimmungen gegen Johnson und für das No-No-Deal-Gesetz. Als Vergeltung wurden sie von Johnson aus der Partei ausgeschlossen. Der Premierminister hat dadurch seine Mehrheit im britischen Parlament verloren, was ihn für das weitere Verfahren enorm schwächt.
Alternativen zum Backstop: Die EU und die übrigen 27 Mitgliedstaaten treten (zur Abwechslung) sehr geschlossen auf, wenn es um den Brexit geht. Sie fordern die Briten auf, eine Alternative zum Backstop zu präsentieren. Nur dann gäbe es eine Grundlage für eine Einigung. Bisher ist Johnson dies schuldig geblieben, Alternativen hat er nicht präsentiert. Deswegen werden manche Regierungschefs ungeduldig und lehnen auch eine weitere Verschiebung des Brexit-Datums ab, sollte die britische Regierung keine praxistauglichen Vorschläge zur Problemlösung vorlegen.
Gerichte prüfen Aussetzung: Die Schließung des Parlaments beschäftigt jetzt auch die Gerichte. Drei schottische Richter hatten am 11. September geurteilt, dass der ganze Vorgang der Regierung Johnson illegal und verfassungswidrig gewesen sei. Die Regierung will sich dagegen wehren und zieht am 17. September vor den Obersten Gerichtshof Großbritanniens. Das Urteil der obersten Richter wird von allen Seiten mit Spannung erwartet.
Wird sich die Regierung über alle hinwegsetzen?
Wie kann es jetzt weitergehen? Hat die neue Regierung die Briten vor die Wand gefahren und alle Möglichkeiten verspielt? Wird die EU einen harten Brexit zulassen? Diese sechs Szenarien sind möglich:
1. Rechtstreit: Boris Johnson hat wiederholt geäußert, dass er sich an ein No-No-Deal-Gesetz nicht halten wird. Die bloße Möglichkeit, dass der Premierminister einer parlamentarischen Demokratie absichtlich ein Gesetz des Parlaments übergehen will, ist für viele ein nicht gekannter Affront. Aber die britische Regierung könnte versuchen, vor Gericht eine Schwachstelle des Gesetzes zu finden.
2. Neuwahlen: Nach der Niederlage im Parlament und dem Verlust der Mehrheit wollte Johnson Neuwahlen ausrufen. Hätte Johnson die Wahlen vor dem 31. Oktober gewinnen können, wäre seine Verhandlungsposition mit einem Schlag erheblich verbessert worden. Die Opposition hat ihm dies untersagt. Somit wird es wohl keine Wahlen geben, bevor die Brexit-Frist abläuft. Denn trotz des Chaos ist Johnson bei den Wählerinnen und Wählern beliebt – aus einer Neuwahl könnte er gestärkt hervorgehen.
3. No-Deal-Brexit: Auch mit dem Gesetz, dass Johnson verpflichtet, gegebenenfalls eine Verlängerung der Frist zu beantragen, ist nicht sicher, dass die EU sich darauf einlässt. Die Staatschefs der anderen EU-Mitgliedstaaten sind genervt und frustriert von den Briten. Sollten die Briten nicht glaubhaft vermitteln können, dass sie künftig Fortschritte beim Brexit machen werden, könnte die EU auf eine Fristverlängerung verzichten.
4. Misstrauensvotum: Die Opposition könnte jederzeit ein Misstrauensvotum verlangen. Allerdings könnte auch Johnson das veranlassen. Mögliche Folgen: Sollte die Regierung nach einem verlorenen Misstrauensvotum aufgelöst werden, könnte Oppositionsführer Corbyn versuchen mit einer eigenen Regierung das Vertrauen des Parlaments zu gewinnen. Wenn nicht, gibt es die Neuwahlen, die Boris Johnson sich wünscht.
5. Einigung mit der EU: Auch wenn es unwahrscheinlich klingt – die Briten könnten bis zum 19. Oktober immer noch eine Einigung mit der EU treffen und, wenn das Unterhaus zustimmt, mit einem solchen Abkommen pünktlich zum 31. Oktober geordnet aus der EU austreten. Danach sieht es aktuell jedoch nicht aus.
6. Kein Brexit: Rein juristisch wäre es immer noch möglich, dass die britische Regierung den Brexit verhindert, indem sie ihren Antrag auf Austritt aus der EU zurückzieht. Auch das bleibt aber vorerst wohl nur ein ferner Traum von Brexit-Gegnerinnen und Gegnern.
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