„Habemus Brexit-Deal“ tönte es am vergangenen Donnerstag, den 17. Oktober, vielerorts. Endlich hatten sich die EU und die britische Regierung von Premierminister Boris Johnson auf ein Abkommen einigen können, das den geregelten Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union festschreibt. Wer sich auf ein Ende der unendlichen Geschichte freute, hatte die Rechnung aber ohne das britische Parlament gemacht. Das muss den Deal nämlich absegnen. Und in der mit Spannung erwarteten Sitzung am 19. Oktober zeigte es minimales Interesse an einer solchen Zustimmung. Stattdessen wurde die Abstimmung einfach aufgeschoben und beschlossen, dass Johnson erst die EU um eine Verlängerung der Brexit-Frist bitten muss, bevor das Abkommen überhaupt zur Abstimmung kommt.
Nun könnte es heute soweit sein. Parlamentssprecher Bercow kann heute Nachmittag entscheiden, dass die britischen Abgeordneten noch heute Abend ihr „Aye” oder „No” – Ja oder Nein – zum Deal mit der EU geben müssen. Sollte dann eine Mehrheit für den Deal stimmen, wäre der geregelte Brexit zum Greifen nahe. Doch die jüngere Brexit-Geschichte zeigt: Nichts ist vorhersehbar und alles kann ganz anders kommen als gedacht. Und das Parlament hat bereits drei Mal gegen einen Brexit-Deal unter Theresa May gestimmt.
Ein ungeregelter Brexit wird unwahrscheinlicher
Die beste Neuigkeit für alle dürfte sein, dass die Wahrscheinlichkeit eines ungeregelten No-Deal-Brexits in den letzten Tagen erheblich gesunken ist. In der Parlamentssitzung am 19. Oktober stimmten die Abgeordneten zwar nicht über das Austrittsabkommen ab, zwangen Johnson aber dazu, bei der EU um Fristaufschub bis zum Januar 2020 zu bitten, was dieser dann auch widerwillig tat. Sollte das britische Unterhaus den Deal heute ablehnen, ist zu erwarten, dass auch die EU einer Fristverlängerung zustimmt. Und sollten sich die Abgeordneten für das Abkommen entscheiden, könnte das Vereinigte Königreich doch schon am 31. Oktober aus der EU austreten.
Entscheidend für das Ergebnis der Brexit-Abstimmung im Parlament werden die Abgeordneten der Labour-Partei, der Liberalen und der nordirischen DUP sein. Denn die Konservativen von Johnson haben nach Parteiaustritten und -ausschlüssen keine Mehrheit im Unterhaus. Die Liberalen wollen den Brexit am liebsten verhindern, die DUP ist mit den Nordirland-Regelungen im Abkommen unglücklich und die Labour-Partei, die intern keine feste Brexit-Position hat, will vor allem verhindern, dass Boris Johnson mit einem Brexit-Abkommen erfolgreich ist.
Bisher hat er jede Abstimmung verloren – Long live Boris Johnson
Der Ausgang der Sitzung am 19. Oktober war eine Niederlage für Boris Johnson, denn um eine Fristverlängerung wollte er Brüssel nicht bitten. Bisher hat der Premierminister noch keine einzige Abstimmung im Unterhaus gewonnen. Eine schier unglaubliche Bilanz. Und trotz allem könnte der eigenwillige Regierungschef langfristig als Sieger aus dem Brexit-Spiel hervorgehen. Denn seine Öffentlichkeitsarbeit ist durchdacht: Er stellt sich als derjenige dar, der den Volkswillen aus dem Referendum von 2016 umsetzen will, aber die Opposition, die den Mehrheitswillen der Bevölkerung missachte, hindere ihn. Gegen alle Hindernisse und gegen alle Erwartungen habe er ein neues Abkommen mit der EU verhandelt, obwohl alle davor sagten, dass dies unmöglich sei.
Das kommt bei seinen Wählern an, was sich auch daran zeigt, dass die Labour-Partei bisher nicht auf die Forderung nach Neuwahlen eingegangen ist. Denn in den Umfragen liegt Johnson vorne. Labour kann aktuell schlichtweg kein politisches Kapital aus dem Brexit schlagen. Zu uneindeutig ist, was sie eigentlich wollen. Einen geordneten Brexit? Oder gar ein zweites Referendum, um den Brexit ganz zu verhindern? Sollte der Brexit heute in London beschlossen werden, dann ist Boris Johnson der große Held seiner Anhänger. Falls das Vereinigte Königreich weitere Monate in der EU hängen bleibt, wird es Neuwahlen geben. Boris Johnson zumindest könnte dann seine weiße Weste präsentieren: Er habe alles für den Brexit gemacht, aber das Parlament und die Gerichte haben sich gegen die Bevölkerung gestellt. Damit kann er eine Neuwahl gewinnen.
Update: Bercow lässt die Abstimmung über Brexit-Abkommen nicht zu
Der Parlamentspräsident John Bercow hat am späten Montagnachmittag entschieden, keine Abstimmung über das Brexit-Abkommen zuzulassen. Aufgrund der Sitzung am 19. Oktober sei dies heute überflüssig, da sich das Abkommen seit der Debatte am Wochenende nicht verändert habe. Dennoch könne heute über das Brexit-Gesetz als ganzes votiert werden. Das ist eine weitere Schlappe für Boris Johnson.
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