Seit inzwischen mehr als drei Jahren dominiert der Ausstieg Großbritanniens aus der Europäischen Union regelmäßig die Schlagzeilen. Regelmäßig vor allem dann, wenn es mal wieder keine Einigung im britischen Parlament gab, wenn das Land einen neuen Regierungschef erkoren und dann doch wieder den Termin für den Brexit aufgeschoben hat. Die Ungewissheit, die lange herrschte, zerrte an den Nerven der Wirtschaft und der Bevölkerung.
Nun haben die Briten das geschafft, was einige Menschen vielleicht gar nicht mehr erwartet hatten: Seit dem 1. Februar 2020 ist das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland nicht mehr Mitglied der Europäischen Union. Die letzte Deadline wurde also dann doch eingehalten – der Wahlerfolg von Boris Johnson im Dezember 2019 trug entscheidend dazu bei. Johnson gehört zu den Galleonsfiguren der Brexit-Kampagne und konnte sein Bestreben als britischer Premier schlussendlich doch durchsetzen.
Der Weg zum Brexit war allerdings holprig: Eigentlich sollte es der 29. März 2019 sein, dann der 30. Juni, dann der 31. Oktober und schließlich sollte es Ende Januar 2020 so weit sein. Der immer wieder verschobene Austritt Großbritanniens aus der EU entwickelte sich zu einer nie enden wollenden Saga, die im Netz schon diverse spöttische Gags hervorgebracht hat – etwa die Phrase „Einen englischen/britischen Abgang machen“, also sich auf einer Party zu verabschieden und dann doch noch ein paar Stunden zu bleiben.
Doch während das ewige Hin und Her um den Brexit bei einigen für Belustigung sorgte, ist er ein wahres Damoklesschwert für die britische Wirtschaft und die Jugend des Landes. Im Oktober 2018, also noch vor der ersten Verschiebung des Brexits, sprach die BBC von einem „landesweiten ‚Deal or No Deal‘-Spiel“, das abgehalten werde. Vor allem die Aussicht auf einen ungeregelten Ausstieg, also den „No Deal“-Brexit, stimmte das Nachrichtenmagazin mehr als pessimistisch: „In diesem Fall könnte alles in der Luft hängen – von Flügen zwischen Großbritannien und Europa bis hin zu Importen und Exporten, sowie der Frage, ob Briten ein Visum benötigen, um nach Europa zu reisen – und kein Experte auf der Welt kann uns sagen, was genau passieren würde.“
Die britische Jugend trifft es besonders
Derartige Unsicherheiten treffen alle Briten, aber vor allem eine Altersgruppe: Die Jugend. Kurz nach dem Referendum wurden Zahlen veröffentlicht, die zeigten, dass gerade die junge Generation dafür gestimmt hatte, in der EU zu bleiben. Doch die Jugend scheint für die wichtige Abstimmung nicht richtig mobilisiert worden zu sein: Wie die BBC ausführt, lag die Wahlbeteiligung bei den 18- bis 24-Jährigen bei lediglich 64 Prozent – und nicht alle stimmten für den Verbleib in der EU. Bei den Über-65-Jährigen machten sich dagegen neun von zehn Wahlberechtigten auf den Weg zur Wahlurne.
Doch gerade die jungen Briten, die lange mit den Folgen des Brexits zu kämpfen haben werden, dürften kein leichtes Spiel haben. Die Frage steht im Raum, ob ihre beruflichen Aussichten durch den Austritt verbessert werden, ob der Brexit ihre Ausbildungsmöglichkeiten sicherstellen wird, ob sie weiterhin Reisefreiheit – eben auch für die EU – genießen werden. Schon im August 2018 erklärte der Guardian, dass „einige der längerfristigen Anzeichen wenig vielversprechend“ seien. Vor allem im Fall eines harten Brexits dürften die Effekte eines ökonomischen Schocks verstärkt werden.
Auch im Bereich Bildung drohen weitreichende Folgen: Dem British Council, einer gemeinnützigen Einrichtung zur Förderung internationaler Beziehungen, zufolge, ist der Sprachunterricht in Großbritannien zunehmend gefährdet, so der Guardian. Der Brexit könne diese Situation noch verschärfen. „Die Zahl der Schüler, die moderne Sprachen wie beispielsweise Französisch oder Deutsch lernen, hat wie die Zahl der ausländischen Sprachlehrer dramatisch abgenommen“, so der Guardian. „Es ist kein Wunder, dass das British Council davor warnt, dass mehr junge Menschen Sprachen lernen müssen, sollte das UK nach einem Brexit auf globaler Ebene wettbewerbsfähig bleiben wollen.“
Die Jugend stellt dabei ihre ganz eigenen Forderungen an die Politik, die seit fast einem Jahr um die genauen Details des Brexits streitet (und dabei nicht wirklich auf einen grünen Zweig zu kommen scheint). Wie Laura Gardiner, Research Director der Resolution Foundation, laut BBC anmerkt, kamen viele Knackpunkte nicht erst mit dem Brexit-Referendum auf und sollten nun nicht übersehen werden. „Es ist verständlich, dass der Brexit die derzeitige politische Debatte dominiert“, so Gardiner im Oktober 2018 gegenüber der BBC. „Aber für viele junge Menschen haben Fragen wie eine höhere berufliche und private Sicherheit sowie die Rente eine viel größere Bedeutung. Politiker aller Parteien müssen das verstehen.“
Es gibt auch junge Brexiteers
Was aber eben auch verstanden werden muss: Die Jugend stimmte nicht durchweg für den Verbleib in der EU. Schätzungen zufolge entschieden sich nur 70 bis 75 Prozent der jungen Wähler beim Referendum für „Remain“, rund jeder Vierte war demzufolge für den Austritt aus der Union. Die BBC berichtet beispielsweise über den 18-jährigen Steven Edington, der für die Pro-Brexit-Website Westmonster arbeitet. Er bezeichnet Brexit als „eine wunderbare Möglichkeit für junge Menschen“. Der Austritt aus der EU bedeute seiner Meinung nach, „dass wir Freihandelsabkommen in der ganzen Welt schließen und so Zölle auf Konsumgüter von Telefonen bis hin zu Nahrungsmittel reduzieren und mehr aus unserem hartverdienten Geld machen können“. Er hoffe zudem, dass verschärfte Grenzkontrollen dazu führen, die Löhne in Großbritannien zu steigern, da der Lohndruck durch die Einwanderung von Niedriglohnarbeitern verschwinde. Wie die BBC aber einwendet, haben Einwanderer aus der EU keinen nennenswerten Einfluss auf die Lohnentwicklung der Briten.
Nennenswert ist aber der Einfluss des Brexits auf die psychische Gesundheit junger Briten: Wie der Young Women’s Trust, eine gemeinnützige Organisation, die sich für junge Frauen mit geringem Einkommen einsetzt, in einer Studie im September 2017 ermittelt hat, belastet die Aussicht auf den Austritt junge Menschen besonders stark. Jeder dritte Befragte gab demnach an, besorgter als im Jahr zuvor zu sein. „Der Brexit, Geldsorgen und die Kosten für Wohnraum sind die hauptsächlichen Gründe“, heißt es. 42 Prozent der jungen Briten sagen demnach, dass der Austritt aus der EU ein Grund zur Sorge sei. Insgesamt zeigte sich fast die Hälfte der Befragten (47 Prozent) um die Zukunft besorgt.
Die europäische Wirtschaft im Brexit-Griff
Aber nicht nur die britische Jugend ist besorgt: Die europäische Wirtschaft hängt seit dem Referendum in der Luft, die Auswirkungen eines Brexits waren kaum abzusehen. In einer Umfrage von Ibi Research aus dem September 2019 gab jeder zweite Händler an, dass der Brexit einen Einfluss auf die Einkäufe in englischen Online-Shops, bzw. auf Kunden aus dem UK haben wird, aber die genauen Effekte seien ungewiss. Rund jeder dritte Händler (37 Prozent) geht davon aus, dass mit einem Preisanstieg für Waren für Online-Kunden innerhalb und außerhalb des Vereinigten Königreichs zu rechnen sei. Und fast jeder zehnte Händler denkt, dass Investitionen im E-Commerce-Bereich zurückgehen werden. Die genauen Auswirkungen sind auch jetzt nach dem Ausscheiden des Landes aus der EU weiterhin ungewiss.
Dass die EU einen wirtschaftlichen Schlag hinnehmen muss, steht aber außer Frage. Großbritannien ist die zweitstärkste Volkswirtschaft der EU und erreicht ein Bruttoinlandsprodukt von 2,39 Billionen Euro. Das entspricht knapp einem Sechstel des BIP der gesamten Europäischen Union, das bei 15,88 Billionen Euro liegt. Ein Rückgang des BIP ist zu erwarten: Wäre Großbritannien zum ursprünglich angesetzten Termin (also März 2019) aus der EU ausgetreten, wurde bereits mit einem BIP-Rückgang von 3,9 Prozent in Großbritannien und 3,7 Prozent in Irland gerechnet, wie eine Berechnung aus dem Jahr 2018 zeigt. Deutschlands BIP wäre nach dieser Berechnung um 0,5 Prozent zurückgegangen.
Die Investitionsbereitschaft sinkt
Durch das ewige Geschacher um den Brexit ist die Investitionsbereitschaft in der Wirtschaft europaweit zurückgegangen. Wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung im Oktober 2019 ermittelt hat, belastet „die anhaltende Unsicherheit“ die deutsche Konjunktur. Berechnungen des DIW zufolge, sei das Wirtschaftswachstum hierzulande um durchschnittlich 0,2 Prozentpunkte pro Jahr niedriger ausgefallen – und zwar ausdrücklich aufgrund der Unsicherheit seit dem Brexit-Referendum. Ohne die Entscheidung der Briten hätte es diese Verlangsamung nicht gegeben. Seit Juni 2016 betragen die Wachstumseinbußen also 0,8 Prozentpunkte – mit anhaltender Tendenz.
Diese Entwicklung dürfte sich auch im gesamten Euroraum bemerkbar machen, wie das DIW bereits 2016 prognostiziert: „Dabei dürfen Handelseffekte eine wichtige Rolle spielen; die schwächere britische Nachfrage dämpft die Exporte aus dem Euroraum. Die Abwertung des britischen Pfunds wird diesen Rückgang wohl verstärken, da sich im Zuge dessen die Importe aus britischer Sicht verteuern. Die höhere Unsicherheit im Euroraum dürfte die Finanzierungskosten steigern und die Investitionstätigkeit zusätzlich beeinträchtigen“, so die düstere Aussicht. Gerade Deutschland als einer der wichtigsten Handelspartner Großbritanniens dürfte von dieser Entwicklung beeinträchtigt sein, schätzt das Institut.
Dass sich ausgerechnet das Vereinigte Königreich dazu entschlossen hat, aus der EU auszutreten, bringt eine weitere besondere Problematik mit sich: Durch die Teilung Irlands in die Republik Irland und dem zum UK gehörenden Nordirland gab es lange Zeit Spannungen in dem Land, die in bewaffneten Konflikten mit Tausenden Todesopfern mündeten (die Briten sprechen hier in ihrer unnachahmlich herunterspielenden Art und Weise von den „Troubles“, also den „Schwierigkeiten“). Erst Ende der 90er-Jahre konnten die Konflikte beigelegt werden. Durch den Brexit droht das Land nun abermals gespalten zu werden – weshalb sich die Irland-Frage zu einem Kernthema bei den Brexit-Verhandlungen zwischen der EU und Großbritannien entwickelt hat. Verklauselt ist diese Kernfrage im sogenannten Backstop in dem Austrittsabkommen.
Der Backstop: Die Kernfrage im Brexit
Die Backstop-Klausel ist eine der zentralen Fragen im Brexit-Abkommen zwischen Großbritannien und der EU. Irland ist auf besondere Art und Weise von dem Brexit betroffen: Die Republik Irland ist unabhängig und Mitglied der EU, Nordirland gehört zum Vereinigten Königreich und würde beim Brexit aus der EU austreten. Damit droht die (erneute) Spaltung des Landes, in dem noch bis 1998 bewaffnete Konflikte wüteten.
Die Klausel betrifft die Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland. Sie soll als Rückversicherung wirken, falls nach dem Brexit keine anderweitige, bessere Regelung bis zum 31. Dezember 2020 vereinbart werden kann. Die Klausel hat das Ziel, zu verhindern, dass die Grenze in Irland zu einer Zollgrenze wird, wodurch Warenkontrollen an der Grenze entfallen können. Doch damit wäre das Vereinigte Königreich auch nach dem Brexit Teil der Zollunion geblieben.
In dem Brexit-Abkommen, das am 17. Oktober 2019 vorgestellt wurde, ist der Backstop in seiner ursprünglichen Form nicht mehr enthalten. Die neue Regelung gilt demnach nur noch für Nordirland und nicht mehr für das gesamte Vereinigte Königreich. Damit würden allerdings Zollkontrollen zwischen Nordirland und Großbritannien erforderlich.
„Der größte außenpolitische Fehler der Nachkriegszeit“
Wie Ulrich Hoppe, Geschäftsführer der deutschen Außenhandleskammer, laut Zeit Online erklärt, sei Großbritannien seit dem Referendum unattraktiver geworden, unter anderem wegen des niedrigeren Pfundkurses. Nach Angaben der deutschen Außenhandelskammer hängen rund 750.000 Arbeitsplätze in Deutschland vom bilateralen Handel ab. In Großbritannien beschäftigen deutsche Firmen über 400.000 Menschen. Viele Unternehmen würden abwarten, wie sich der Brexit auswirke. Hoppe zufolge stehe auch die Gestaltung eines Freihandelsabkommens zwischen der EU und Großbritannien „in den Sternen“. Die von Johnson angekündigte schnelle Aushandlung eines solchen Handelsabkommens mit der EU nach dem Brexit sei seiner Einschätzung nach unrealistisch.
Die Auswirkungen des Brexits auf Europa und die Welt lassen sich nicht von der Hand weisen. Auch John Bercow, jahrelanger Sprecher des britischen Unterhauses, hat nach seinem Rücktritt Stellung zu dem Brexit beziehen können: „Ich denke, dass der Brexit der größte außenpolitische Fehler in der Nachkriegszeit ist“ zitiert Zeit Online den 56-Jährigen. In seiner Position als Sprecher des Unterhauses war Bercow, der mit seinen „Order!“-Rufen über die Grenzen Großbritanniens hinweg bekannt wurde, zur Neutralität in politischen Fragen verpflichtet. Dass er seine neu gewonnene Freiheit für ein so deutliches Statement nutzt, dürfte eben auch bezeichnend sein.
Abwarten und Tee trinken
Was die Zukunft nun bringen wird, ist bisher ebenso ungewiss wie die Zeit zwischen dem Referendum und dem tatsächlichen Austritt. Ab dem 1. Februar 2020 gibt es zumindest zunächst keine Veränderungen, wie der Händlerbund in einem Brexit-FAQ für Online-Händler erklärt. Die EU und das Vereinigte Königreich haben eine Übergangsphase vereinbart, die vorerst bis um 31. Dezember 2020 gilt. In diesem Zeitraum wird Großbritannien wie ein EU-Mitgliedsstaat behandelt und bleibt damit vorerst im europäischen Binnenmarkt und in der Europäischen Zollunion. Die Übergangsphase soll dazu genutzt werden, dass die EU und Großbritannien die künftige Beziehung zueinander aushandeln. Und wenn nötig, kann die Übergangsphase auch um ein oder zwei Jahre verlängert werden – das Brexit-Karussell dreht sich also munter weiter.
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