Mehr als 300 Seiten umfasst das Insolvenzgutachten von Wirecards Insolvenzverwalter Michael Jaffé. Mehr als 300 Seiten, in denen katastrophale Zustände bei dem Zahlungsanbieter offenbart werden. Wie die Tagesschau berichtet, „entlarven der Jurist und sein Team nicht nur die Horrorbilanz des einst gefeierten Dax-Konzerns“, sondern zeigen auch „Einblicke in einen dramatischen Sommer“. So sollen Jaffés Bericht zufolge einzelne Manager von Wirecard keine Räume mit geöffneten Fenstern mehr betreten haben, weil sie Angst vor einem Anschlag gehabt hätten.
Ein Geschäft auf Pump
Aber auch abseits solcher thriller-artigen Schilderungen bietet der Insolvenzbericht dramatische Informationen. Demnach sollen nur wenige der weltweit über 50 Konzernfirmen „überhaupt eigene Einnahmen“ erwirtschaftet haben. Wirecards Geschäftsmodell war offenbar ein Geschäft auf Pump – Woche für Woche habe das Unternehmen das Geld verbrannt, was Banken geliehen und Investoren zugeführt hatten.
Bereits vor der Insolvenz im Juni seien es zehn Millionen Euro gewesen, die Wirecard an Schulden angehäuft hatte – und das pro Woche. Wäre der Bilanzskandal um das Unternehmen nicht aufgeflogen, wäre der Sommer nach Jaffés Berechnungen noch teurer geworden: In den 13 Wochen nach der Insolvenzanmeldung wäre ein weiteres Minus von 200 Millionen Euro dazugekommen.
3,2 Milliarden Euro Schulden, 26,8 Millionen Euro Guthaben
Wirecards Bilanz, die in den vergangenen Jahren augenscheinlich aufgebläht wurde, ist nach Schätzungen einer Beratungsgesellschaft, die Jaffé in Auftrag gegeben hatte, ein tiefrotes Armutszeugnis. 2017 soll das Unternehmen demnach einen Verlust von 99 Millionen Euro eingefahren haben, 2018 lag das Minus bei 190 Millionen, 2019 bei 375 Millionen Euro. Und in den ersten drei Monaten dieses Jahres habe Wirecard Verluste in Höhe von 86 Millionen Euro gemacht.
Die Gesamtschulden des Konzern liegen laut Gutachten bei 3,2 Milliarden Euro. Und finanzielle Mittel hat das Unternehmen offenbar kaum: Lediglich 26,8 Millionen Euro habe der Insolvenzverwalter an frei verfügbaren Bankguthaben auffinden können. „Und selbst, wenn Jaffé alles Verwertbare bei Wirecard zu Geld macht, rechnet er laut Gutachten noch mit einem Minus von 2,8 Milliarden Euro“, heißt es bei der Tagesschau weiter.
Jaffé prüft Ansprüche gegenüber EY
Nun sucht der Insolvenzverwalter auch nach den Verantwortlichen für diese finanzielle Katastrophe. Vor allem gegen den früheren Vorstandsvorsitzenden Markus Braun und den noch immer flüchtigen früheren Finanzvorstand Jan Marsalek soll Jaffé rechtliche Schritte erwägen und die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen die beiden Manager bereits seit Wochen.
Der Insolvenzverwalter soll aber auch Ansprüche gegen die Wirtschaftsprüfer von EY in Erwägung ziehen – schließlich hatten sie jahrelang die Bilanz von Wirecard testiert, obwohl die Financial Times Zweifel an den Zahlen erhoben hatte. Die Prüfer von EY hatten bereits vor zwei Monaten darauf verwiesen, dass der Betrug derart umfassend und konspirativ gewesen sei, dass er nur schwer aufgedeckt werden könne.
Wirecard hat 750 Konten geführt
Für Jaffé ist nicht nur deshalb die Aufarbeitung des Falls alles andere als einfach: Wirecard habe weltweit 750 Konten geführt, über die Gelder zwischen den zahlreichen Tochterfirmen hin- und hergeschoben worden sei. Das Konzergeflecht ist insgesamt ebenfalls schwer zu durchschauen: Eine Wirecard-Tochter aus Neuseeland habe mit ihrer Niederlassung in Griechenland Dienstleistungen für Konzerngesellschaften in München erbracht. Diese Dienste hätten sich Jaffé zufolge „im Wesentlichen als unnötig für die Geschäfte“ herausgestellt.
Kommentar schreiben
Antworten
Ihre Antwort schreiben