1. WTO-Mitgliedstaaten passen ihr nationales Recht an Handelsabkommen an
2. Reiche Länder sind am Verhandlungstisch überrepräsentiert
3. Verhandlungsbefürworter wollen höchstmögliche Liberalisierung
4. Ärmere Länder könnten von Zöllen auf digitale Güter profitieren
5. Der Standort von Servern macht einen Unterschied
6. Verfestigung des Status Quo oder globales Umdenken?
7. NGOs pochen auf Datensouveränität für Entwicklungsländer
8. Verbraucherzentralen sehen Herausforderungen
9. Verbraucherschutz könnte global verbessert werden
10. Grüne im Bundestag teilen die Sorgen
Seit 2019 verhandeln mehr als 80 Staaten innerhalb der Welthandelsorganisation (WTO) über globale Regeln und Verpflichtungen im Online-Handel. Das Ziel der Verhandlungen ist es, ein Handelsabkommen zu schaffen, das einen internationalen rechtlichen Rahmen für Staaten einrichtet und sich förderlich für Unternehmen und Verbraucher auswirkt.
Die Einschätzung darüber, ob dieses Ziel erreicht wird und wer am Ende von einem Handelsabkommen profitieren könnte, fällt unterschiedlich aus, je nachdem, wen man fragt. So befürchten einige Nichtregierungsorganisationen (NGOs) die Benachteiligung ärmerer Länder aus dem globalen Süden. Auch die möglichen Auswirkungen eines WTO-Abkommens auf Datenschutz und Verbraucherschutz sind umstritten.
Dabei finden die Verhandlungen innerhalb der WTO derzeit noch ohne größere Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit statt. Zeit also, sich anzuschauen, worum es eigentlich geht, was ein WTO-Abkommen bedeuten würde, wie der aktuelle Stand ist und was Stimmen aus Politik und Zivilgesellschaft dazu zu sagen haben.
WTO-Mitgliedstaaten passen ihr nationales Recht an Handelsabkommen an
In der WTO treffen sich Staaten, um die internationale Handelspolitik zu diskutieren und zu koordinieren. Dafür werden innerhalb der WTO Handelsabkommen verhandelt, die fast auf der ganzen Welt einheitliche Spielregeln einführen. Das funktioniert, weil sich Mitgliedstaaten dazu verpflichten, dass sie ihre nationalen Gesetze an die Regelungen anpassen, die in den WTO-Handelsabkommen festgelegt werden. Wenn sie gegen Handelsabkommen verstoßen, zu deren Einhaltung sie sich verpflichtet haben, können sie bei Verstößen auch verklagt werden. Auch die jetzigen Verhandlungen sind darauf ausgelegt, einen allgemeinen völkerrechtlichen Rahmen für den internationalen E-Commerce zu schaffen.
Die Europäische Union ist ebenfalls ein Mitglied der WTO. Im Falle der E-Commerce-Verhandlungen haben die Mitgliedstaaten der EU-Kommission das Verhandlungsmandat übergeben. Das bedeutet, dass ausschließlich die Kommission am Verhandlungstisch sitzt und für die EU-Mitgliedstaaten auf Grundlage des EU-Rechts verhandelt. Aufgabe der Kommission ist also, dass das WTO-Abkommen im Einklang mit dem bestehenden EU-Rechtsrahmen stehen soll.
Reiche Länder sind am Verhandlungstisch überrepräsentiert
Die Verhandlungen über ein neues E-Commerce-Abkommen der WTO laufen schon seit Anfang 2019 und starteten mit 76 WTO-Mitgliedern. Mittlerweile sind es fast 90 Staaten, die an den Diskussionen beteiligt sind. Dabei fällt auf, dass es vor allem reiche Länder sind, die sich beteiligen – darunter die EU-Mitgliedstaaten, das Vereinigte Königreich, die USA, China, Saudi-Arabien oder Mexiko.
Die ärmeren Länder, die sich vor allem auf der Südhalbkugel – und zumeist auf dem afrikanischen Kontinent – befinden, sind größtenteils nicht in den Verhandlungen vertreten. Und das, obwohl die meisten von ihnen Mitglied in der WTO sind.
Das hat zwei Gründe: Einerseits fürchten die Länder des globalen Südens, dass sich bestehende wirtschaftliche Ungleichheiten durch ein WTO-Abkommen noch verschärfen würden und verweigern die Teilnahme an den Verhandlungen, wodurch die Schaffung eines Abkommens, das für alle bindend wäre, verhindert wird. So wäre ein Abkommen, das nur von der aktuellen Anzahl von WTO-Mitgliedern verhandelt wird, nur für Länder bindend, die sich freiwillig dazu bereit erklären, es zu befolgen. Für diese Länder können dann bei Verstößen auch Sanktionen entstehen. Wer sich dem Abkommen nicht anschließt, muss es auch nicht einhalten.
Andererseits fehlen ärmeren Ländern teilweise die Ressourcen, um Sachverständige für die Verhandlungen abzustellen, wie Netzpolitik vergangenes Jahr berichtete. Aufgrund der Vielzahl von Verhandlungen innerhalb der WTO würden diese Länder ihre Fachleute nur für Verhandlungen abstellen, die für das jeweilige Land die höchste Relevanz hätte. Diese praktische Benachteiligung ärmerer Staaten gibt es nicht nur bei den E-Commerce-Verhandlungen, sondern ist ein grundsätzliches Problem in verschiedenen Bereichen und Institutionen der WTO.
Verhandlungsbefürworter wollen höchstmögliche Liberalisierung
Die Debatte zwischen Befürwortern und Kritikern der Verhandlungen dreht sich vor allem darum, wie viel Liberalisierung es im Online-Handel geben soll. Befürworter der Verhandlungen wollen Regelungen für möglichst viele Situationen treffen, die sie als finanzielle und bürokratische Handelshemmnisse im grenzüberschreitenden E-Commerce betrachten. Ein WTO-Abkommen würde liberalisierte Regelungen, die teilweise heute schon gelten, auf unbefristete Zeit rechtlich absichern und Verstöße könnten sanktioniert werden. Davon würden vor allem Länder profitieren, die heute schon eine starke Tech- und Digitalindustrie haben, allen voran die USA.
So wollen die Befürworter aus den reichen Staaten etwa das sogenannte Moratorium für elektronische Übertragungen in dem Handelsabkommen verankern. Das Moratorium besagt, dass keine Zölle auf den grenzüberschreitenden Online-Handel mit elektronischen Gütern (z.B. Daten, Musik, E-Books) erhoben werden dürfen. Es wurde 1998 erstmals eingeführt und muss seitdem alle zwei Jahre verlängert werden. Eine Aufnahme in ein WTO-Abkommen würde es zu einer permanenten Regel der Welthandelsorganisation machen.
Ärmere Länder könnten von Zöllen auf digitale Güter profitieren
Die Länder des globalen Südens sehen das Moratorium und eine permanente Verankerung dessen in WTO-Verträgen kritisch. Denn die bisherigen Regelungen führen dazu, dass insbesondere Daten aus ärmeren Ländern zollfrei exportiert werden, von Tech-Unternehmen in Industrieländern zur Produktentwicklung genutzt werden und diese Produkte danach wieder in Ländern verkauft werden, aus denen die Daten kamen, ohne dass sie von der Datenlieferung profitieren können. Zölle sind für Entwicklungsländer generell ein wichtiger Einkommensfaktor und wären im Bereich der Datenwirtschaft ein wichtiger Baustein beim Aufbau einer eigenen Tech-Industrie.
Speziell Entwicklungsländer, die viele Daten exportieren, wie Indien oder Südafrika, stehen den Verhandlungen daher noch ablehnend gegenüber. Sie befürchten, dass eine weitere Marktliberalisierung dazu führt, dass ihnen die nationale Souveränität über den Umgang mit wertvollen Daten weiter entgleitet.
Der Standort von Servern macht einen Unterschied
Im Kontext von digitaler Souveränität ist ein weiterer Streitpunkt, ob ein generelles Verbot von Datenlokalisierungsbestimmung in die WTO-Regelungen aufgenommen werden soll. Länder, die das E-Commerce-Abkommen ratifizieren würden, dürften dann keine Gesetze mehr erlassen, die vorsehen, dass Daten erst im Land der Generierung gespeichert werden müssen.
Tech-Unternehmen und Industriestaaten befürworten ein solches Verbot. Sie sind für freie Datenströme und wollen verhindern, dass Staaten ausländische Anbieter von digitalen Dienstleistungen gesetzlich vorschreiben dürften, Server auf ihrem Staatsgebiet zu betreiben. Die Tech-Riesen wollen damit ihre Vormachtstellung erhalten.
Denn für Entwicklungsländer wären solche Datenlokalisierungsgesetze eine Möglichkeit, die eigene Datensouveränität und den Datenschutz zu stärken, eigene Daten-Pools sowie eine eigene datenbasierte Industrie zu entwickeln. Dann wären sie nicht bloß Datenlieferanten.
Verfestigung des Status Quo oder globales Umdenken?
Insgesamt zeigt sich, dass ein WTO-Abkommen für den E-Commerce, wie es derzeit verhandelt wird, den derzeitigen Status Quo verfestigen würde, von dem große Tech-Unternehmen und Industriestaaten profitieren. Die Befürworter des Abkommens wollen Liberalisierung und Staaten in ihren Möglichkeiten der Regulierung deutlich einschränken.
Denn ein solches internationales Abkommen würde es viel schwerer bis unmöglich machen, eigene nationale Regelungen für internationale Tech-Unternehmen zu schaffen, die in einem Land tätig sind. Würde ein Land bestimmte Plattformen mit strengeren Regeln belegen wollen, wäre das unter Umständen nicht oder nur eingeschränkt möglich. Damit geht ein Stück nationale Souveränität verloren, das vor allem Entwicklungsländern nützen könnte.
Diese könnten auch davon profitieren, wenn sie ihre Daten nicht mehr ins Ausland verschenken müssten. Dafür bräuchte es aber ein globales Umdenken, dass es ermöglichen würde, dass ärmere Länder gegenüber den Marktführen aufholen können. Aktuell ist das nur schwer vorstellbar.
NGOs pochen auf Datensouveränität für Entwicklungsländer
Die Meinungen über die WTO-Ecommerce-Verhandlungen gehen derweil auseinander. Globalisierungskritische NGOs fordern mehr Fairness für Entwicklungsstaaten. So befürchtet etwa Brot für die Welt gar einen „Kolonialismus 4.0”, der in der WTO vorbereitet werde. In einer gemeinsamen Stellungnahme mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund fordern die Organisationen, dass den Entwicklungsstaaten Datenhoheit und digitale Souveränität ermöglicht werde.
Neben der Ablehnung einer dauerhaften Verankerung des Zoll-Moratoriums und eines Verbots von Datenlokalisierungsbestimmungen haben die beiden Organisationen Sorge, dass in dem Abkommen ein niedriger globaler Datenschutzstandard festgehalten werden könnte, der auch in Europa die Standards der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) unterlaufen würde und damit für Verbraucher in der EU schädlich wäre. Außerdem wollen sie, dass es Staaten nicht verboten wird, Zugang zu Algorithmen und Quellcodes einzufordern, da dies ein Mittel sei, um Qualität und Datensicherheit von Software zu kontrollieren.
Verbraucherzentralen sehen Herausforderungen
Auch der Bundesverband Verbraucherzentrale (vzbv) sieht es als höchst problematisch an, dass die Offenlegung von Quellcodes künftig handelsrechtlich verboten werden könnte. Denn auch digitale Schnittstellen könnten laut vzbv-Gutachten als Quellcodes gelten und deren Kontrolle durch Behörden, Wissenschaft oder Zivilgesellschaft sei wichtig, um künftig KI-basierte Anwendungen zu überprüfen, erklärt Isabelle Buscke, die Leiterin des Brüsseler Büros des vzbv.
Die aktuelle Position der EU für die WTO-Verhandlungen berge sogar das Risiko, nicht die Standards zu erfüllen, die sich die EU selbst eigentlich durch den kommenden Digital Services Act (DSA, siehe Infokasten) geben wolle. Die Verhandlungsposition der EU sei „aus vzbv-Sicht nicht ausreichend, um die Ziele des Verbraucherschutz in den entsprechenden Passagen des DSA, aber insbesondere der zukünftigen Regulierung von Algorithmen oder „künstlicher Intelligenz“ zu erreichen“, erklärt Buscke. „Es geht also darum, dass die Ausgabe der Algorithmen über Schnittstellen getestet werden muss – und Vorschriften möglicherweise in Zukunft vor der WTO rechtlich angegriffen werden könnten, wenn ein Staat dies explizit erlaubt.“ So könne etwa die Gefahr von digitaler Preisdiskriminierung durch Algorithmen enorm steigen, wenn Schnittstellen nicht mehr getestet werden.
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Verbraucherschutz könnte global verbessert werden
Allerdings sieht der vzbv auch die Chance, dass es weltweit zu einer Verbesserung des Verbraucherschutzes kommen könnte. Denn in einem anderen Verhandlungsstrang der E-Commerce-Verhandlungen gehe es laut Buscke darum, „Verbraucher:innen in den Vertragsstaaten bessere Möglichkeiten zur alternativen Streitbeilegung zu ermöglichen und Verbraucherrechten damit insgesamt und global zu besserer Durchsetzung zu verhelfen”, was der vzbv sehr begrüße.
Es sei zudem vorgesehen, besseren Schutz vor betrügerischen Aktivitäten im Netz zu schaffen, Minimalstandards für Verbraucherinformationen und Produktsicherheit einzuführen. „Wenn alle Vertragsparteien das umsetzen, wäre das wahrlich ein Schritt in die richtige Richtung”, findet Buscke. „In der EU würde sich vermutlich nichts ändern – viele Verbraucher:innen kaufen aber oft unbemerkt in Drittstaaten ein und würden auf diese Weise von diesen Regelungen profitieren.”
Grüne im Bundestag teilen die Sorgen
Auch im Bundestag wurden die WTO-Verhandlungen zum E-Commerce bisher nur am Rande thematisiert. Im April 2021 stellte die Grünen-Fraktion - damals noch in der Opposition - eine kleine Anfrage an die Bundesregierung, die im Mai desselben Jahres antwortete.
Die Grünen zeigten sich besorgt, ob das WTO-Abkommen europäische Vorgaben verwässern könnte, insbesondere im Verbraucherschutz, bei Transparenzpflichten, Algorithmen und den kommenden Regelungen aus dem Digital Services Act und Digital Markets Act (DMA, siehe Infokasten). Schließlich könnte die EU ja Gefahr laufen, verklagt zu werden, sollten etwa DSA und DMA plötzlich globale Handelshemmnisse darstellen. Sie äußerten außerdem die Sorge, dass die Marktmachtkonzentration auf digitalen Märkten durch das Abkommen steigen könnte.
Allerdings beschwichtigte die damalige Bundesregierung in ihrer Antwort damit, dass die EU-Staaten der EU-Kommission ein klares Verhandlungsmandat übertragen hätten und dass ein WTO-Abkommen europäische Regeln daher nicht einschränken werde. Auch beim Verbraucherschutz sehe man keine Gefahren: Die europäische Omnibus-Richtlinie (siehe Infokasten) sei im Einklang mit möglichen Regelungen aus dem kommenden WTO-Abkommen.
Nun, da die Grünen Teil der Bundesregierung sind, sind zwar nicht alle Sorgen ausgeräumt, doch man hofft nun selbst darauf, dass die EU-Kommission im Rahmen ihres Verhandlungsmandats dafür sorgt, dass EU-Standards nicht unterschritten werden. Auf Nachfrage erklärt der digitalpolitische Sprecher der Grünen im Bundestag, Maik Außendorf, dass es bei den Verhandlungen wichtig sei, „dass die Digitalisierung zu nachhaltigem Wohlstand beiträgt und auch die Staaten mit noch kleiner Digitalwirtschaft ihre digitale Souveränität – sowohl für zentrale Dienste, als auch beim Ausbau der digitalen Infrastrukturen – stärken können”. Es solle laut Außendorf bei den Verhandlungen darum gehen, „die Leitgedanken der europäischen Gesetzgebung auf die internationale Ebene zu übertragen.”
DMA-Berichterstatter im EU-Parlament bleibt entspannt
Mit Blick auf die Sorge, ob die EU möglicherweise verklagt werden könnte, wenn der DMA in Europa stregere Standards schaffen würde, als von einem WTO-Abkommen vorgesehen, bleibt auch der Hauptberichterstatter für den DMA im EU-Parlament, Andreas Schwab (CDU), gelassen: „Der Digital Markets Act (DMA) ist ein Gesetz, das den europäischen Binnenmarkt regelt. Bei der Vorbereitung und der Verhandlung des DMA sind stets Überlegungen über die Verhältnismäßigkeit und der Einklang mit WTO-Recht eingeflossen. Darum steht der DMA im Einklang mit den künftigen WTO-Abkommen zu E-Commerce. Die wettbewerbsrechtlichen und binnenmarktrechtlichen Regeln sind souveräne Entscheidungen der EU, die die Kommission bei den Verhandlungen zu einem E-Commerce Abkommen binden."
Abschluss der Verhandlungen in 2022 wird angestrebt
Die Einschätzungen der Fachleute zeigen, dass die Auswirkungen eines WTO-Abkommens zum E-Commerce für deutsche und europäische Händler derzeit noch nicht ganz klar sind. Im schlechtesten Fall könnte es die Abhängigkeit kleinerer Online-Händler von den großen Unternehmen noch befördern. Wie genau das Abkommen mit allen Bereichen der geplanten DSA und DMA harmoniert, wird wohl noch zu klären sein. Die große Debatte dreht sich weiterhin darum, welche Möglichkeiten man Entwicklungsstaaten lässt und ob deren digitale Souveränität merklich unterwandert wird.
Die Verhandlungen gehen derweil innerhalb der WTO weiter. Regelmäßig veröffentlicht die zuständige Arbeitsgruppe Übersichten über ihre Fortschritte. Noch gibt es zahlreiche Themenbereiche, in denen es noch keinen fertigen Textentwurf geht. Wie die Verhandlungsgruppe aber erst Ende 2021 verkündet hat, wird ein Abschluss der Verhandlungen noch im Jahr 2022 angestrebt.
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