Mehr als zwei Drittel der hiesigen Fach- und Führungskräfte glauben daran, dass Entscheidungen in Unternehmen schneller getroffen werden können, wenn die Hierarchien „flach“ sind, wie 2021 eine Befragung der Management- und IT-Beratung Sopra Steria in Zusammenarbeit mit dem F.A.Z.-Institut ergeben hatte. Diese Studie kam auch zu dem Ergebnis, dass tatsächlich nur 28 Prozent der Firmen dann auch tatsächlich Hierarchien abgebaut hätten. Sorgen um die Karriereplanung, aber auch Krisenzeiten, die mitunter nach „klaren Ansagen“ verlangen, stünden dem entgegen. 

Aktuell werden viele klassische Arbeitskonzepte zunehmend hinterfragt, seien es Arbeitszeit und -ort, Gehaltstransparenz oder die Sinnhaftigkeit. Das Plus an Selbstständigkeit – etwa durch mehr eigenständige Arbeit im Homeoffice – führte indes dazu, dass es nicht mehr zwingend ein Kontrollorgan im hierarchischen Sinne braucht. Außerdem ist vor allem in jüngeren Generationen das Bedürfnis nach mehr Mitgestaltung und Einbeziehung in Entscheidungsprozesse ausgeprägt. 

Die Frage, ob die Aufrechterhaltung von Hierarchien noch das Richtige ist, scheint sich auch in der derzeitigen, vornehmlich auch wirtschaftlichen Krise erneut zu stellen. So hatte beispielsweise Online-Modehändler Zalando Ende Februar bekannt gegeben, gleich mehrere Stellen abbauen zu wollen – und zwar auch auf Führungsebene. Man sei zu komplex geworden, hieß es, wolle wieder wie ein mittelständisches Unternehmen denken. 

Entscheidungen dort treffen, wo sie anfallen

Doch wie soll eine Arbeitswelt ohne Hierarchien funktionieren? Viele Verantwortliche, viele Zuständigkeiten, unklare Rollen – das kann Entscheidungen ja eher im Wege stehen. Eine Organisationsstruktur, die vor allem Entscheidungsprozesse positiv beeinflussen soll, ist „Holocracy“, deutsch Holokratie. Die Grundidee ist, dass jede:r Teil des Ganzen ist und einzelne Angestellte, Teams und Abteilungen eigenständig für die gemeinsamen Unternehmensziele arbeiteten. 

Nicht einige wenige an der Spitze geben die Richtung vor, sondern es gibt die Möglichkeit, dass „alle in ihren Bereichen autonom mit unternehmerischem Geist loslegen können“. So jedenfalls formuliert es das Online-Unternehmen Soulbottles. Die Berliner Firma, 2012 gegründet, stellt Trinkflaschen aus Glas und Edelstahl her. Die Mitarbeiter:innen haben sich bewusst dafür entschieden, auf das Holokratie-Konzept zu setzen, „da es auf dem Prinzip der Selbstorganisation beruht und wir davon überzeugt sind, dass die Tätigkeiten in einem Bereich am besten von den Menschen strukturiert werden können, die auch tagtäglich dort arbeiten“, begründet das Unternehmen auf Nachfrage. Und dieses Prinzip gelte auch für Entscheidungen. „Holacracy ermöglicht uns, dass Entscheidungen dort getroffen werden, wo sie anfallen.“

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Holokratie und Remote Work gehen gut zusammen

Dass sich diese Struktur für das Unternehmen grundsätzlich bewährt, bewiesen nicht zuletzt die Auswirkungen der Coronapandemie. „Als es im Februar 2020 plötzlich für alle ins Homeoffice ging, ist uns dieser Wechsel erstaunlich leicht gefallen. Dadurch, dass Meetings bereits eine klare Struktur hatten, die lediglich dem digitalen Rahmen angepasst werden musste, konnten wir inhaltlich nahtlos an unseren Projekten weiter arbeiten. Die Tatsache, dass Arbeiten bei uns auf Vertrauen und Selbstorganisation beruht, hat den Wechsel ins Homeoffice natürlich ebenfalls sehr erleichtert“, schildert eine Unternehmenssprecherin. 

Die Kraft von Sinn & Zweck

Ein Begriff, der bereits häufig im Vokabelheftchen rund um New-Work-Themen auftaucht, ist „Purpose“ (deutsch: Zweck): Wieso und warum mache ich eine Arbeit, Tätigkeit oder treffe eine Entscheidung X? Die Antwort auf die Frage, worauf eine Handlung abzielt, ist der Anlass dafür, warum sie überhaupt ausgeführt wird. Eine nach außen sichtbare sowie authentische Haltung zu eigenen Unternehmenswerten wird bereits stark, etwa von Konsument:innen eingefordert. Solche Werte und Zielstellungen müssen aber nicht nur nach Außen zur Schau gestellt, sondern auch intern gelebt werden. Selten geht es dabei primär um Umsätze oder ums „Kohlescheffeln“, sondern eher um Themen wie beispielsweise Nachhaltigkeit, Diversität, Nachwuchsförderung oder dergleichen. Wirtschaftlichkeit ist damit eher ein Mittel zum Zweck. 

Soulbottles selbst bezeichnet sich als „Purpose-Unternehmen“. Holokratie und Sinn und Zweck gingen nämlich gut zusammen. Ihr gemeinsames Ziel lautet: „Wir wollen, dass alle Menschen gerne sozial-ökologisch nachhaltig handeln und konsumieren können ohne den Planeten unnötig zu belasten“. Und übersetzt auf die eigene Unternehmensstruktur bedeutet dies: „Wir wollen wertschätzend zusammenarbeiten und trotzdem effizient bleiben. Mit Sinn.“ 

Holokratie – von Anfang an

Aber wenn alle irgendwie mitreden dürfen, stellt sich leicht die Frage, ob man nicht den Überblick verliert – und wie es dann um die Effizienz bestellt ist. Für die Antwort auf die Frage, wofür wer zuständig ist, gibt es deshalb ganz eigene Prozesse. So übernehmen die Beschäftigten grundsätzlich nicht Positionen, sondern immer mal wieder (unterschiedliche) Rollen, die dann mit bestimmten Zuständigkeiten einhergehen. „Wenn wir merken, dass Zuständigkeiten in einem Bereich nicht geklärt sind, wird ein Governance-Meeting einberufen. Dort werden die Zuständigkeiten der Rollen festgelegt“, erläutert Soulbottles. Hakt es dann immer noch oder es entstehen darüber hinaus weitere Spannungen, greifen weitere Mechanismen. So kommt in diesem Fall Mediation, also ein Verfahren, bei dem die betroffenen Parteien gemeinsam mit Mediator:innen freiwillig und eigenverantwortlich einvernehmliche Lösungen finden, zum Einsatz. Bei Soulbottles basieren diese Vermittlungsgespräche auf den Prinzipien der Gewaltfreien Kommunikation. 

Die Organisationsstruktur der Holokratie gibt es im Unternehmen von Anfang an, deshalb ist „das Arbeiten mit Holacracy so normal, dass wir es uns gar nicht anders vorstellen können“, erklärt uns die Verantwortliche weiter. Wie es ist, von einem anderen Managementsystem umzusteigen, wissen sie somit natürlich nicht. Doch dabei bleiben soll es wohl erstmal, denn: „Was unsere Erfahrung aber auf jeden Fall zeigt: Es ist sehr wichtig, dass alle Mitarbeitenden, die neu in die Organisation kommen, in Bezug auf Holacracy geschult werden und ein gemeinsames Verständnis davon besteht, was selbstorganisiertes Arbeiten bedeutet.“ 

Ob andere Unternehmen auf diese Struktur umsteigen könnten oder Hierarchien zumindest zugunsten von mehr Mitbestimmung seitens der eigenen Beschäftigten abbauen, bleibt natürlich abzuwarten – und wird sich sicher auch je nach Branche stark unterscheiden. Das Beispiel von Soulbottles zeigt aber, dass Holokratie für ein Unternehmen ganz gut funktioniert. Denn die Berliner Firma betreibt nicht nur seit über zehn Jahren ein erfolgreiches Business mit derzeit 35 Mitarbeiter:innen, sondern setzt sich auch darüber hinaus für nachhaltige Technologien, beispielsweise ein besonders bruchfestes Glas und die Verbesserung der Glasindustrie ein, um dort langfristig CO₂-Emissionen einzusparen. Ziemlich ganzheitlich. 

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