Die Fachkräftesituation stellt Deutschland vor enorme wirtschaftliche Herausforderungen: „Das größte strukturelle Problem für die deutsche Wirtschaft in den nächsten Jahren ist die Lücke an Fachkräften und an Arbeitskräften“, sagte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck bei der Vorstellung des Jahresberichts zur Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung am vergangenen Mittwoch. „Es fehlt an allen Ecken und Kanten“, so der Grünen-Politiker. Bei der derzeit stagnierenden Wirtschaft könne die Arbeit, die da ist, nicht mehr geleistet werden, der demografische Wandel „schlage jetzt voll zu“, führte Habeck am Folgetag in der Regierungserklärung zur wirtschaftlichen Lage im Bundestag aus. Und er bekräftigte zugleich aktuelle Reformpläne zur Fachkräftesicherung.
In der politischen und öffentlichen Diskussion, unter anderem wegen geplanter Reformen oder den Themen Fachkräftezuwanderung oder Asylpolitik, zeigt sich, dass es zum Fachkräftemangel widersprüchliche Wahrnehmungen gibt. So stehen dem hohen Bedarf an Fachkräften beispielsweise eine Rekordbeschäftigung am Arbeitsmarkt, die Lohn- bzw. Arbeitsbedingungen sowie ein umfangreicher Stellenabbau – etwa bei Miele, Bosch, SAP oder VW – gegenüber. Passt das also überhaupt zusammen? Wir blicken einmal auf die Grundlagen, Zahlen und Argumentationen.
Fachkräfte: Mangel oder Engpass?
Mit dem Fachkräftemangel wird grundsätzlich der Zustand bezeichnet, in dem eine bedeutende Anzahl von Arbeitsplätzen nicht durch entsprechend qualifizierte Mitarbeiter:innen besetzt werden kann – so definiert es das Institut für Arbeits- und Berufsforschung (IAB). Im Unterschied dazu gibt es auch Fachkräfteengpässe – in einer Region und in einem Beruf übersteigt die Nachfrage das Angebot an Fachkräften für einen gewissen Zeitraum und Stellen können nur verzögert besetzt werden. In der Praxis lässt sich beides schwer voneinander trennen, schreibt das IAB.
Ein Blick auf die Zahlen zeigt den hohen Bedarf an qualifiziertem Personal in den Unternehmen: Mehr als 630.000 offene Stellen für Fachkräfte konnten 2023 nicht besetzt werden, so das Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung (Kofa) des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). Rund 700.000 offene Stellen meldete die Bundesarbeitsagentur im Januar.
Anders gesagt: Jede zweite Firma könne, laut einer Umfrage der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) im November 2023 unter 22.000 Betrieben, Stellen teils nicht besetze – es würden in der Breite der deutschen Wirtschaft personelle Engpässe bestehen, heißt es. „Einige Branchen sprechen nicht nur von Lücken bei Fachkräften, sondern von einem allgemeinen Mangel an Arbeitskräften“, fasst der stellvertretende DIHK-Hauptgeschäftsführer Achim Dercks zusammen. Bei den Firmen stelle sich deshalb sogar Ernüchterung ein. Bundeswirtschaftsminister Habeck sagte, dass einige Betriebe ihre offenen Stellen nicht einmal mehr offiziell melden würden, da sie die Chancen für deren Besetzung als gering einstuften.
Mehr Arbeitskräfte als Angebote
Die Bundesagentur für Arbeit stellte im Fachkräfte-Report für das Jahr 2022 fest, dass es keine Belege für einen Mangel an Arbeitskräften generell gebe – im Gegenteil, es gibt mehr Arbeitskräfte als Jobangebote. Aber nicht alle Arbeitnehmer:innen sind passend qualifiziert. So zeigt sich „auf dem Teilarbeitsmarkt für Fachkräfte im Vergleich zu früheren Jahren eine zunehmende Verknappung, was sich in einem deutlichen Anstieg der Zahl der Engpassberufe widerspiegelt“, stellt die Behörde klar.
Der Bundeswirtschaftsminister betonte, dass aufgrund des demografischen Wandels in Zukunft aber eben nicht nur Fach-, sondern auch Arbeitskräfte generell knapp werden würden. So hat die Bevölkerung hierzulande zwar etwas zugenommen – doch ein Großteil der Leute, die heute erwerbstätig sind, gehört zu den geburtenstarken Jahrgängen der 1960er. Und diese gehen in den nächsten rund 15 Jahren in den Ruhestand. Die weniger geburtenstarken, jüngeren Jahrgänge können die entstehende Lücke in den nächsten Jahren nicht füllen bzw. sind noch nicht alt genug, um zu arbeiten. Alle aber fragen Güter und Dienstleistungen nach – und um diesen Bedarf zu erfüllen, braucht es mehr Fach- und Arbeitskräfte.
Trotzdem sind derzeit rund 46,2 Millionen Menschen in Beschäftigung – das ist ein Rekordwert. Und Simon Jäger vom Institut zur Zukunft der Arbeit meint, dass dies doch gegen einen Fachkräftemangel spricht: „Es arbeiten so viele Menschen wie noch nie[...]. Zudem sind die jüngeren Jahrgänge tendenziell besser ausgebildet als diejenigen, die in Rente gehen“, führte er im Interview mit der Deutschen Welle vor etwa einem Jahr aus.
Schlechte Bezahlung als Teil des Problems
Jäger zufolge gibt es andere Stellschrauben: „Gleichzeitig aber sind die Löhne real stark gefallen – um 5,7 Prozent im vergangenen Jahr“, erklärt er. Die Frage sei also eher, wer will eigentlich wo und wie arbeiten. Der Wettbewerb im Arbeitsmarkt habe zugenommen. Wie Fach- und Arbeitskräfte verteilt sind, werde sich eher über Arbeitsbedingungen regeln.
Zum Beispiel über mehr Lohn? Einen Zusammenhang zwischen geringem Verdienst und Personalengpässen zeigt eine Analyse des Handelsblatts von Mitte Dezember auf: „Die weitaus meisten Fachkräfte in Mangelberufen verdienen weniger als der Durchschnitt in den Bereichen“, heißt es darin. Das gelte etwa für Bäckereiverkäufer:innen, in der Gastronomie oder bei Arzthelfer:innen (letztere sind ja kürzlich erstmals für bessere Bezahlung auf die Straße gegangen). Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) erkennt indes keinen systematischen statistischen Zusammenhang zwischen Lohnniveau und Fachkräfteknappheit. Alexander Burstedde vom IW sagt, dass „Lohnerhöhungen kurzfristig nicht dazu führen, dass es mehr Menschen mit der benötigten Qualifikation gibt“. Theoretisch könnte, wie bei Jäger angeklungen, der Markt die Bezahlung regeln – wer mehr gute Leute braucht, muss mehr löhnen. „Den Gesetzmäßigkeiten des Marktes zufolge wäre zu erwarten, dass sich bei hoher Fachkräfte-Nachfrage und gleichzeitig geringem Angebot Bezahlung und Arbeitsbedingungen verbessern“, erklärt in diesem Zusammenhang auch Anja Piel, Vorstandsmitglied beim Deutschen Gewerkschaftsbund. „Das ist aktuell aber nicht der Fall“, stellt sie klar. „Aber es gibt einen anderen Zusammenhang: dass nämlich Engpässe besonders dort entstehen, wo Löhne niedrig sind.“
Stellenabbau, Rekordbeschäftigung – und trotzdem Personalnot?
Viele Arbeitnehmer:innen suchen neben gutem Gehalt verstärkt auch nach attraktiven Bedingungen, etwa einer kürzeren Arbeitszeit. Diese könnte den Fachkräftemangel sogar verschärfen – jedenfalls dann, wenn das nicht mit Produktivitätsfortschritten einhergeht.
Produktivität ist dabei das wesentliche Stichwort. Denn dass Arbeitskräfte trotz Rekordbeschäftigung knapp sind, geht mit der Frage einher, wie produktiv Arbeit überhaupt ist. Und diese Produktivitätsentwicklung wird von drei Aspekten beeinflusst, so Bernd Fitzenberger, Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB): Erstens halten Unternehmen Fachkräfte beispielsweise auch in unsicheren Zeiten, denn eine Neueinstellung erst dann, wenn es der Firma besser geht, ist in der Regel aufwendiger. Zweitens werden neue Technologien eingeführt, wodurch der Bedarf an qualifiziertem Personal zunächst steigt – man arbeitet noch nicht produktiv, kann aber hoffentlich künftig mithalten. Und drittens: Branchen wie Pflege, Erziehung oder Gesundheit haben insgesamt eher eine geringe Produktivität, wegen steigender Nachfrage nach Betreuungsangeboten (alternde Gesellschaft) aber einen wachsenden Personalbedarf. Defizite in der Infrastruktur sowie fehlende Qualifikationen der potenziell Erwerbstätigen beeinflussen die Produktivität zusätzlich negativ.
Diese Verhältnisse spitzen sich künftig zu: „Aktuell sehen wir erst den Beginn der Problematik fehlender Arbeitskräfte und niedriger Produktivitätsentwicklung, da die Erwerbsbevölkerung bisher noch deutlich gewachsen ist. Erst im weiteren Verlauf der 2020er-Jahre wird die Erwerbsbevölkerung wohl trotz positiven Wanderungssaldos tatsächlich demografiebedingt zurückgehen“, führt der IAB-Direktor dazu auch in einem Gastkommentar im Handelsblatt aus.
Die Frage nach der Produktivität erklärt übrigens auch, warum es – wie in jüngster Vergangenheit – trotz Fachkräftebedarf auch gleichzeitig massive Stellenkürzungen bei großen Konzernen gibt. Es handelt sich um kurzfristige Reaktionen auf Veränderungen wie neue wirtschaftliche Rahmenbedingungen, Nachhaltigkeit oder Digitalisierung, die das Unternehmenswachstum beeinflussen. „Entlassungen haben über das vergangene Jahr zwar zugenommen, im langjährigen Vergleich liegt die Quote aber immer noch so niedrig wie nie zuvor“, ordnet Enzo Weber vom IAB in der Tagesschau den Personalabbau ein. Jutta Rump, Direktorin beim Institut für Beschäftigung und Employability in Ludwigshafen, fasst zusammen: „Veränderung ist der Normalzustand. Darauf müssen wir Antworten finden.“
Fachkräftesicherung – das will die Politik tun
Die Bundesregierung hat es sich daher zur Aufgabe gemacht, die Sicherung des Fachkräftebedarfs mit politischen Maßnahmen anzugehen. „Anders als etwa in den 1980er Jahren geht es heute weniger darum, die Nachfrage nach Arbeitskräften zu erhöhen im Sinne einer Bekämpfung von Arbeitslosigkeit. Vielmehr ist angesichts der zunehmenden Fachkräfteengpässe eine Stabilisierung des vorhandenen Arbeitsangebots, die Hebung von Potenzialen durch eine Stärkung von Arbeitsanreizen sowie eine Erhöhung der Arbeitsproduktivität erforderlich“, heißt es im Jahreswirtschaftsbericht.
Konkret bedeutet das, laut Habeck: Man wolle jene Menschen in Arbeit bringen, die derzeit in sozialen Sicherungssystemen seien – dafür habe man sich beispielsweise bereits in der Debatte zur Asylpolitik starkgemacht. Derzeit sind außerdem beispielsweise 2,6 Millionen Menschen im Alter von 20 bis 30 ohne Berufsqualifizierung, die man in Arbeit bringen müsse, so der Bundeswirtschaftsminister. Dafür wolle man sich umfangreich den Themen Aus- und Weiterbildung widmen.
Nehmen wir anderen Ländern die Fachkräfte weg?
Unterm Strich: Arbeits- und Fachkräfte werden noch nicht überall so eingesetzt, wie sie könnten, damit der Bedarf an Personal gedeckt ist und Unternehmen entsprechend produktiv sein können. Umbrüche und Veränderungen am Markt gehören zwar zur Normalität, doch wie viele Industriestaaten haben wir eine alternde Gesellschaft und sind daher auf zusätzliche Fachkräfte angewiesen.
Auch aus diesem Grund wurde etwa das Fachkräftezuwanderungsgesetz beschlossen. Zuwanderung müsse jetzt gelebt werden, so Habeck. Signale zur Abschiebung zu senden, sei laut dem Grünen-Politiker stattdessen „ökonomischer Wahnsinn“. Doch wenn ausländische Fachkräfte nach Deutschland kommen, fehlen sie dann anderswo? „Es kommt darauf an“, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Herbert Brücker vom IAB gegenüber t-online. In einigen Ländern herrscht Arbeits- bzw. Fachkräfteüberschuss und langfristig könnten sich durch den hohen Bedarf anderswo vor Ort bessere Ausbildungsstrukturen entwickeln. Doch gerade mit Blick auf den Gesundheitssektor gebe es überall einen Mangel – an dieser Stelle sei es wichtiger, den Blick auf die Arbeitsbedingungen im eigenen Land zu richten.
Artikelbild: http://www.depositphotos.com
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