Hacktivismus, Cyberwar, Alufolie

Wer ist eigentlich Anonymous und was will das Kollektiv?

Veröffentlicht: 30.03.2022 | Geschrieben von: Christoph Pech | Letzte Aktualisierung: 30.03.2022
Anonymous

Scientology und der IS, Elon Musk und Attila Hildmann, oder aktuell Russland – sie alle haben eines gemeinsam: Sie waren schon Ziele der Hacker von Anonymous, einer der derzeit wohl bekanntesten und gleichzeitig am schwierigsten zu greifenden Organisationen der Welt. Wobei es hier schon losgeht. Anonymous ist keine Organisation, im Grunde ist es nicht einmal eine Gruppe, sondern eher ein maximal dezentral arbeitendes Kollektiv, das mal als Troll-Armee berüchtigt war, heute aber gerade im Netz großes Ansehen genießt und bei dem sich viele offenbar nicht sicher sind, ob es nun gefährlich ist oder nicht.

Wer ist Anonymous? Wo kommt das Kollektiv her? Wie politisch sind die Akteure hinter den Guy-Fawkes-Masken? Kann die Gruppe wirklich so großes Unheil anrichten, wie es einige Kritiker vermuten? Ein kompakter Klärungsversuch.

Wer ist Anonymous?

Die Antwort auf die Frage, wer hinter Anonymous steckt, lässt sich heutzutage quasi nicht beantworten. Das Motto des Kollektivs, das gern ans Ende von öffentlichen Botschaften gesetzt wird, lautet: „Wir sind Anonymous. Wir sind Legion. Wir vergeben nicht. Wir vergessen nicht. Erwartet uns.“ Erkennungszeichen ist die bekannte Guy-Fawkes-Maske, die gern auf den Film „V for Vendetta“ aus dem Jahr 2005 zurückgeführt wird. In einem Reddit-Thread von 2020 wird allerdings das Meme „Epic Fail Guy“ als Inspiration genannt. Typisch für Anonymous: Die Welt über die eigene Identität im Unklaren lassen.

Gegründet hat sich das Kollektiv in den Nullerjahren wohl aus dem Imageboard 4chan heraus. Beiträge von nicht eingeloggten Usern werden dort als „Anonymous“ angezeigt. „Mitglieder“ des Kollektivs nennen sich darauf basierend Anon. Anonymous hat keine Führung, keine Mitgliederstruktur, keine Hierarchie, dementsprechend schwer greifbar ist die Gruppierung. Die damaligen Gründer und „Führungspersönlichkeiten“ spielen heute keine Rolle und mussten teilweise ins Gefängnis. Ein FBI-Agent erklärte gar 2013, dass Anonymous weitgehend der Vergangenheit angehöre, weil man „ihre größten Spieler demontiert“ habe, wie T3n schrieb. Heute weiß man, dass das eine recht optimistische Sichtweise war.

Da es keiner Anmeldung oder sonstiger Voraussetzungen bedarf, kann sich jede Person, die sich dem Kollektiv oder seinen Operationen zugehörig fühlt, „Anon“ nennen, was allerdings auch dazu führen kann, dass Anonymous als Begriff missbraucht wird. So hatten sich zum Beispiel unter dem Namen „Anonymous.Kollektiv“ rechte Hetzer in einer Facebook-Gruppe zusammengeschlossen, die Millionen Mitglieder hatte und erst nach Jahren geschlossen wurde. Anonymous musste sich von den Rechtsextremisten immer wieder distanzieren.

Was will Anonymous?

Auch diese Frage ist nicht ganz eindeutig zu beantworten. Wie das Beispiel Anonymous.Kollektiv zeigt, haben Antisemitismus oder rechte Hetze keinen Platz bei Anonymous, genauso wenig wie Diktatoren, wie die aktuellen Angriffe auf russische Infrastruktur zeigen. Das Kollektiv erlegt sich keine moralischen Verpflichtungen auf, die Aktionen belegen aber die überwältigende Positionierung für Informationsfreiheit, Menschenrechte und den gesunden Menschenverstand (siehe unten Operation Tinfoil). Aufgrund der Offenheit des Kollektivs und fehlender (Selbst-)Verpflichtungen werfen Kritiker ein, dass dieser propagierte Kampf für das „Gute“ auch kippen könnte oder gar ungewollt gefährlich wird.

Mehr zum Thema:

Kampf gegen Putin

Das hat mit der aktuell laufenden Aktion gegen Russlands Ukraine-Krieg zu tun. Mit der #OpRussia hat Anonymous eine große Operation gegen Putin und den russischen Staatsapparat gestartet und greift dabei auch infrastrukturell essenzielle Ziele wie Gazprom, die Sberbank, das Verteidigungsministerium und TV-Sender an. Erst kürzlich sind Hacker in die Systeme der russischen Zentralbank eingedrungen und haben sensible Daten veröffentlicht, wie u.a. die Frankfurter Rundschau berichtete.

In einem Bericht bei SWR2 wurde nun etwa befürchtet, dass Anonymous als anonyme Gruppe durchaus leicht zu kapern sei. Weil die „ideologischen Ziele schwer auf einen Nenner zu bringen“ seien, könne Anonymous auch zur Gefahr werden. Wenn Hacks sich etwa auf wirklich kritische Infrastrukturen richten, wenn die Trinkwasserversorgung zusammenbricht, Züge kollidieren. „Die Armee der Hacker ist auf beiden Seiten schwer zu kontrollieren“, heißt es da.

Wirklich realistisch erscheint ein solches Szenario allerdings kaum. Für Linus Neumann, Sprecher des Chaos Computer Clubs (CCC), handele es sich hier zunächst einmal eher um digitalen Protest als um Teilnahme am Krieg. „Solche Aktionen können als Zeichen der Solidarität wahrgenommen werden, weil sie zeigen, dass quasi die ganze Welt gegen diesen Krieg und hinter den Ukrainer:innen steht. Und das eben auch auf der Ebene digitaler Aktionen“, so Neumann gegenüber Netzpolitik. Es sei eher eine symbolische digitale Sitzblockade, die „Russland wohl kaum nennenswert schaden oder gar den Verlauf des Angriffskriegs beeinflussen“ dürfte.

Auch Neumann räumt zwar ein, dass Hackerangriffen theoretisch einen nennenswerten Einfluss auf einen Krieg haben können, „praktisch kommt den Angriffen, die wir in den letzten Tagen gesehen haben, eher die Rolle zu, für Ausfälle, Kosten, Instabilität und Verwirrung zu sorgen.“ Anonymous setzt sich in einer Erklärung selbst mit dieser Rolle und den Vorwürfen auseinander und stellt klar: „Die Bedenken teilen wir. Die Kriegsrhetorik ist in weiten Teilen überzogen. Anonymous kann starke Worte, aber man ist sich immer der Tatsache bewusst, dass dies eine gefährliche Situation ist. Die Aktivisten wissen, dass sie ein Angriff auf wirklich kritische Infrastrukturen wie Atomkraftwerke oder Verkehrsleitsysteme für uns ein NoGo ist. Die eigene und die ukrainische Infrastruktur gegen russische Cyber-Angriffe zu sichern steht im Vordergrund.“

Anonymous wird nicht plötzlich zur (digitalen) Militärmacht

Anonymous stellt sich dezidiert gegen den Angriffskrieg gegen die Ukraine. Das Kollektiv hat in der Vergangenheit Scientology angegriffen, den Islamischen Staat ins Visier genommen oder auch – als Teil der Operation Tinfoil (deutsch: Alufolie), die Konten von Verschwörungsideologe Attila Hildmann gehackt, weil dieser mit Fake News über die Corona-Pandemie mobil machte. Anonymous positionierte sich nach dem Mord an George Floyd klar auf der Seite der Black-Lives-Matter-Bewegung. Dass das Kollektiv, das aus tausenden Mitgliedern besteht, unterwandert wird und konzertierte Aktionen gegen die Zivilbevölkerung oder gegen Menschenrechte startet, ist mindestens unwahrscheinlich.

Das Kollektiv räumt selbst ein: „Jeder kann sich Anonymous nennen, doch nicht überall ist Anonymous drin“. Aber: „Unser Engagement bezieht sich auf das Krachschlagen und stören ohne zu zerschlagen und zu zerstören.“ Dass das nicht immer so bleiben muss, zeigt die bewegte Vergangenheit des Kollektivs. Dass sich Anonymous im Kern aber stets gegen Ausbeutung, Unmenschlichkeit und Ausgrenzung positionierte aber ebenso.

Sie wollen immer über die neuesten Entwicklungen in der digitalen Welt informiert sein? Mit unseren Newslettern erhalten Sie die wichtigsten Top-News und spannende Hintergründe direkt in Ihr E-Mail-Postfach – Jetzt abonnieren!
Newsletter
Abonnieren
Bleibe stets informiert mit unserem Newsletter.