Vom unechten Influencer bis zum Kündigungs-Dummy

Wie uns digitale Assistenten und künstliche Menschen das Leben versüßen wollen

Veröffentlicht: 16.09.2020 | Geschrieben von: Tina Plewinski | Letzte Aktualisierung: 16.09.2020
Barry Künstlicher Assitent

Sagt Ihnen der Name „Karl Klammer“ vielleicht noch etwas? – Wenn nicht, könnte das daran liegen, dass Sie entweder zu jung sind oder versucht haben, den digitalen Assistenten aus Ihrem Gedächtnis auszuradieren. Denn viele Menschen waren Herrn Klammer nicht unbedingt zugetan … Bei Karl Klammer handelt es sich um einen virtuellen, animierten Assistenten in Form einer kleinen, silbernen Cartoon-Büroklammer, den Microsoft in den späten 90er Jahren in sein Schreibprogramm Word integrierte. Hier eine kleine Gedächtnisstütze:

Karl Klammer, der im englischen Original „Clippit“ oder kurz „Clippy“ heißt, wurde ursprünglich eingeführt, um die Nutzer von Microsoft Office bei ihren Tätigkeiten zu unterstützen – etwa beim Schreiben eines Briefes oder beim effizienteren Arbeiten. Allerdings wurde er von der breiten Masse nicht als Stütze wahrgenommen, sondern als kleine Witzfigur, die mit ihren nervtötenden Vorschlägen und Tipps mehr Ärger machte als Vorteile brachte. Trotz der Bemühungen Microsofts, das digitale Helferlein zu etablieren, scheiterte das Projekt und Karl wurde beerdigt.

An der stetigen Weiterentwicklung und Etablierung virtueller Assistenten konnte der Fehlschlag von Clippy allerdings nicht rütteln. Zwar sind die virtuellen Assistenten noch nicht derart in unseren Alltag integriert, dass sie einen fundamentalen Bestandteil des Lebens bilden (wie etwa das Internet oder Smartphones), allerdings hat sich die Bandbreite an verschiedenen Assistenten in den vergangenen Jahren so vergrößert, dass der Kontakt mit solchen digitalen „Persönlichkeiten“ zunimmt. Und zwar sowohl beruflich als auch privat – wobei Branchenexperten auch davon ausgehen, dass sich die beiden Sphären in ihrer Entwicklung bedingen und gegenseitig vorantreiben.

Alexa als Paradebeispiel einer digitalen Assistentin

Eine der bekanntesten virtuellen Assistenten dürfte beispielsweise Amazons Alexa sein. Die Sprachassistentin, die Amazon Ende 2014 vorgestellt hatte, ist inzwischen nicht nur in die hauseigenen Lautsprecher des Online-Riesen integriert, sondern „wohnt“ mittlerweile auch in Kopfhörern, Steckdosen, TV-Geräten, Smart-Home-Produkten oder gar Autos externer Marken. Von hier aus spielt sie den Nutzern auf Zuruf Musik ab, beantwortet Fragen, liest Nachrichten vor, erinnert die Nutzer an wichtige Termine, kann Produkte auf Einkaufslisten packen, dimmt das Licht oder dreht wahlweise auch die Heizung hoch. 

Die Möglichkeiten und Skills von Alexa sind in den vergangenen Jahren massiv angewachsen – kein Wunder, denn Amazon will Alexa zur unentbehrlichen Haushaltshilfe oder im Optimalfall sogar zum unersetzlichen, digitalen Familienmitglied seiner Kunden machen. Bereits im vergangenen Jahr soll es rund 20.000 Skills für Alexa gegeben haben: Quasi jeder Skill ein Argument, sich das digitale Helferlein in die eigenen vier Wände zu holen und ganz nach den eigenen Bedürfnissen zu nutzen.

Wie weit Amazon mit seiner Alexa-Verbreitung schon gekommen ist, zeigt sich unter anderem im Rahmen einer Statista-Umfrage aus dem vergangenen Jahr. Dabei wurden 1.021 deutsche Internetnutzer ab 18 Jahren befragt, wobei fast zwei Drittel (63 Prozent) angaben, schon einmal von Alexa gehört zu haben. Jeder Dritte habe Alexa indes mindestens schon einmal genutzt (15 Prozent) oder greife sogar regelmäßig auf die Assistentin zurück (18 Prozent). Eine durchaus beachtliche Leistung, die mit fortwährendem Marketing-Aufwand, vielen Werbevideos und Anzeigen auch weiterhin vorangetrieben wird.

Alexa & Co. werden die Einführung digitaler Assistenten in Unternehmen beschleunigen 

Die zunehmende Verbreitung im privaten Raum, die Amazon bei Alexa forciert, dürfte dabei auch grundsätzlich die Toleranz entsprechender Systeme bei Verbrauchern steigern und sich zudem auch direkt auf die berufliche Sphäre auswirken, wie Experten vermuten: „Wir glauben, dass die Beliebtheit von Lösungen wie Amazon Echo, Apple HomePod und Google Home den Druck auf die Unternehmen erhöhen wird, ähnliche Geräte am Arbeitsplatz zu ermöglichen“, zitiert Digital Business Cloud den Marktforscher Van Baker, Vizepräsident von Gartner. Wie groß das Potenzial grundsätzlich ist, zeigen entsprechende Schätzungen des Unternehmens: Demnach sollen die Ausgaben für Verbraucher und Unternehmen für digitale Assistenten 2021 einen Wert von 3,5 Milliarden US-Dollar erreichen.

Wirft man einen Blick durch den digitalen Raum, stößt man über kurz oder lang auf zahlreiche digitale Wesen, die mit unterschiedlichen Ausrichtungen und Funktionen aufwarten. Hier zeigt sich ein durchaus breites Einsatzfeld im beruflichen sowie privaten Leben, das für die Zukunft enormes Potenzial bringen dürfte. Diese Bandbreite soll im Folgenden durch ein paar Beispiele aufgezeigt werden.

Eine virtuelle Erotik-Influencerin soll Usern einheizen

Wenn manchen Influencern vorgeworfen wird, unecht und gekünstelt zu wirken, dann setzt ein neuer Trend diesem Vorwurf noch einmal die Krone auf: der Trend virtueller Influencer – also programmierter Avatare, die sich auf eigenen Instagram-Accounts präsentieren (bzw. präsentiert werden). Natürlich sind diese Systeme keine digitalen Assistenten, könnten aber zumindest als eine Art Vorstufe angesehen werden, da auch sie essentielle Aufgaben übernehmen: Sie unterhalten die Nutzer und empfehlen Produkte sowie Dienstleistungen. Aus Unternehmersicht werden sie zur Produktvermarktung und Kundenbindung genutzt.

Ein namhaftes Beispiel stammt aus dem Hause YouPorn: Das Erotik-Unternehmen startete im vergangenen Jahr die virtuelle Influencerin Jedy Vales, aus deren Profil sich entnehmen lässt, sie sei 24 Jahre und die seither via Twitter, Instagram und Modelhub mit Fans interagieren soll. Vales sei nach Angaben von YouPorn die erste virtuelle Influencerin, die mit Fans im „Not-safe-for-work-Umfeld“ agiert – also in einem Bereich, der quasi kritische bzw. FSK-18-Inhalte bereithält und daher nicht für die Verwendung oder Ansicht am Arbeitsplatz geeignet ist.

„Es macht Spaß, Informationen über meine bevorzugte Porno-Seite zu teilen und ein paar Einblicke in mein Leben in der YouPorn-Community zu gewähren“, zitiert W&V die digitale Schönheit. „Ich freue mich darauf, die Quelle der Wahl für Spaß- und Unterhaltungs-Updates und ein aktiver Part der Zukunft des Pornos zu werden.“

Wer als Follower von Jedy allerdings erotisch knisternde Fotos oder nackte Tatsachen erwartet, könnte enttäuscht werden, denn beim Durchstöbern der geposteten Fotos oder Videos wird schnell deutlich, dass sie höchstens mal in lasziven Posen zu sehen ist, jedoch stets ohne explizit Erotik oder Porn-Inhalte daherkommt.

Doch nicht nur Jedy Vales ist als unechte Social-Media-Expertin am Start: Eine immens erfolgreiche digitale Influencerin ist Lil Miquela, die auf Instagram bereits 2,7 Millionen Follower für sich verbuchen kann und dort nicht nur für verschiedene Produkte wirbt, sondern sogar schon eigene Musik herausgebracht hat. 

Lilmiquela Screenshot Instagram

Wie die Internetworld mit Verweis auf den Sponsored Post Calculator schreibt, soll der Bot pro Beitrag rund 7.211 Euro an Werbeeinnahmen verdienen. „Bis Ende des Jahres, so lautet die Prognose, könnten sich daraus knapp zehn Millionen Euro Werbeerlöse summieren.“ Ein erträgliches Geschäft für das US-amerikanische Technologie-StartUp, das hinter dem adretten Computer-Mädchen steht.

Models – zu schön, um wahr zu sein?

Übrigens gibt es mittlerweile sogar Modelagenturen, die sich ausschließlich auf virtuelle Models spezialisiert haben. Zwar handelt es sich auch hierbei nicht um digitale Assistenten, die daher auch nicht darauf ausgerichtet sind, Nutzern Hilfestellung anzubieten, doch ein Trend hin zu programmierten Menschen – und sei es „nur“ in der Modewelt – dürfte der Verbreitung entsprechender Avatare grundsätzlich zuträglich sein. Daher sollte die Entwicklung an dieser Stelle nicht unterschlagen werden.

Thediigitals Screenshot digitale models

Als sehr gutes Beispiel kann die Agentur The Diigitals herhalten, die sich bereits namhafte Unternehmen wie Vogue, Samsung oder Smart als Kunden angeln konnte. Auch Lavie by Claude Kameni hat sich Models der Agentur geschnappt und präsentiert mithilfe der digitalen Persönlichkeiten beispielsweise eine aktuelle Sommer-Kollektion:

Ein Avatar, um Entlassungen zu trainieren

Im Unterhaltungssektor können digitale Persönlichkeiten eine nette Abwechslung bieten und Verbrauchern oder Unternehmen neue Wege bzw. Funktionen eröffnen. Doch besonders auch im beruflichen Sektor können sie als waschechte Assistenten Unternehmen dabei helfen, Prozesse schneller und besser zu gestalten. Ein ziemlich eindrückliches Beispiel hierfür ist ein System namens Barry. Bei Barry handelt es sich um einen Entlassungs-Dummy, der vom US-StartUp Talespin programmiert wurde, um Mitarbeiter aus dem Personalbereich auf Personalgespräche vorzubereiten.

Das System ist auf die Verwendung einer VR-Brille ausgelegt, sodass sich Nutzer quasi direkt in eine virtuelle Situation aus dem Alltag eines Personalers begeben können. Hier treffen sie dann auf Barry, einen älteren Mitarbeiter, dem sie kündigen müssen. Das Gespräch an sich müssen sie nicht komplett frei führen, sondern haben stets drei Aussage- oder Antwortmöglichkeiten, aus denen sie wählen können. 

Was durch eine vorgegebene Auswahl zunächst vielleicht unrealistisch anmutet, verteidigt Talespin-Gründer Kyle Jackson aber mit dem Training sowie dem Aufbau von Know-how: „Für Einsteiger ist es wichtig, Routinen zu entwickeln“, wird er von Karriere.de zitiert. Um also konfliktgeladene Gespräch zu üben, hätten vorgefertigte Antworten dementsprechend ihre Berechtigung. Je nachdem, für welche Antwort und Gesprächsführung sich der Nutzer entscheidet, reagiert Barry mit unterschiedlichen Emotionen. „Wählt man die falschen Formulierungen, fängt er an zu weinen oder wird gar aggressiv“, wird sein Verhalten weiter beschrieben. 

Im folgenden Video erhält man einen ersten Eindruck von möglichen Gesprächen mit Barry:

Digitale Helfer für Ärzte: Hinweisgeber oder Lernunterstützung

Mit Blick auf die Relevanz gehen entsprechende Systeme aus dem medizinischen Bereich noch eine Stufe weiter. Denn sie zielen zumeist darauf ab, dass die ärztliche Versorgung optimiert und Prozesse eingehalten werden, was etwa Kosten senken und Strukturen effizienter machen kann. In manchen Fällen kann der Einsatz von Tech-Persönlichkeiten und digitalen Assistenten sogar Leben retten – wenn an ihnen zum Beispiel Notfallsituationen geprobt werden.

Digitaler Assistent soll Therapierichtlinien schützen

Dass die Einbindung virtueller Systeme in den medizinischen Alltag keine neue Idee ist, zeigt unter anderem ein Projekt aus dem Jahr 2007. Damals verkündete das Fraunhofer-Institut für Angewandte Informationstechnik FIT, dass man gemeinsam mit der Intensivstation der Universitätsklinik Gießen einen digitalen Assistenten entwickelt habe und zum Einsatz bringe. Dieser solle Ärzte am Patientenbett an Therapierichtlinien erinnern und auf diesem Weg die Einhaltung der Richtlinien sicherstellen. Auf dieser Basis und mithilfe der vorgeschlagenen standardisierten Behandlungspfade könne zudem die Qualität, die Effizienz sowie die Wirtschaftlichkeit der medizinischen Leistungen erhöhen werden.

„Ein wesentlicher Erfolgsfaktor für die Akzeptanz eines digitalen Helfers ist die Einbettung in den normalen Arbeitsablauf. OLGA integriert sich nahtlos in die elektronische Patientenakte und unterstützt den Benutzer pro-aktiv. Sämtliche Interaktionen finden über die gewohnte Benutzeroberfläche des klinischen Informationssystems am Patientenbett statt und stellen keine zusätzliche Belastung dar“, schreibt das Fraunhofer Institut auf seiner Seite.

Hal: Ein digitales Kind für lernende Ärzte

Etwas aus der Rolle fällt in der Aufzählung ein Kind namens „Hal“. Dieses ist nämlich nicht virtuell, dafür aber digital: Hal ist ein Roboter mit annähernd menschenähnlichem Aussehen, der derart konstruiert wurde, dass er sowohl menschliche Geräusche und Reaktionen (zum Beispiel jammern und weinen) als auch menschliche Körperfunktionen realitätsgetreu nachbilden soll. Dabei simuliert er die Verhaltensweisen eines kranken Kindes und soll auf diese Weise angehenden Ärzten und Pflegekräften beim Training und in der Ausbildung helfen. 

„Von einer Lunge, die mit einem Beatmungsgerät beatmet werden kann, über Pupillen, die sich unter Lichteinfluss verändern, bis hin zu einer Kompatibilität mit einem EKG-Gerät ist HAL erstaunlich realitätsgetreu nachgebildet. Die Atmung des Kinder-Roboters wird ergänzt durch Darmgeräusche. Zusätzlich ist dieser in der Lage, Atembeschwerden zu simulieren, die auf eine kollabierende Lunge oder ein anderes Trauma hindeuten“, wird die Funktionsweise bei pressetext.com beschrieben. Selbst bluten kann Hal, sodass junge Ärzte üben können, wie man Patienten hilft, die zu verbluten drohen. Darüber hinaus sei es möglich, in manchen Körperbereichen des Humanoiden mit chirurgischen Instrumenten zu agieren und so Operationen nachzustellen.

Entwickelt wurde der Roboter von Gaumard Scientific, einem Tech-Unternehmen aus Florida. Mithilfe eines entsprechenden Software-Pakets erlaubt es das Unternehmen Nutzern, Hals Verhaltensweisen für die medizinische Ausbildung maßgeschneidert anzupassen und zu programmieren.

Digitale Sicherheit als Schlüsselfaktor

Um digitale Assistenten im beruflichen und privaten Bereich weiter auszubauen, braucht es vor allem Vertrauen der Nutzer in die Systeme und eine solide digitale Absicherung. Dass Cybersicherheit hierbei eine beachtliche Rolle spielt, zeigt auch eine Umfrage von Statista aus dem vergangenen Jahr: Weit mehr als jeder Zweite (56 Prozent) gab damals an, Hackerangriffe als Nachteil virtueller Assistenten zu sehen. Auch vor einem exzessiven Sammeln persönlicher Daten durch Unternehmen scheuen sich die Nutzer. Daneben wurden Aspekte wie etwa ein unpersönlicherer Alltag oder vermehrte Werbeanzeigen angesprochen.

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Es zeigt sich also: Vorbehalte gibt es immer noch reichlich. Doch sind diese nicht in Stein gemeißelt. Es ist allerdings davon auszugehen, dass das Misstrauen abnehmen wird, je mehr Avatare, künstliche Menschen und digitale Assistenten das Licht der Welt erblicken und zum Einsatz kommen. Dabei dürfte Amazon, wie bereits erläutert, eine wichtige Rolle spielen, da das Unternehmen bei den Verbrauchern großes Vertrauen und immense Beliebtheit genießt. Und sind die Kunden ersteinmal vom Nutzen digitaler Assistenten (in diesem Fall eben Alexa) überzeugt, dürfte es nicht lange dauern, bis sie sich auch anderen Systemen öffnen – sei es nun im Privaten oder im Beruflichen.

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