Pech gehabt!

Nachhaltigkeit im Online-Handel: Scheinheilige Lippenbekenntnisse

Veröffentlicht: 28.01.2020 | Geschrieben von: Christoph Pech | Letzte Aktualisierung: 28.01.2020
gekreuzte Finger

Seit nun schon ein paar Jahren plagen mich einmal im Jahr unaussprechliche Rückenschmerzen. Der Nerv macht zu (hier bitte medizinischen Fachbegriff bei Google nachsehen), jede Bewegung wird eine Tortur und nur die Hoffnung, dass es in zwei, drei Tagen wieder besser wird, hilft darüber hinweg, dass selbst das Sockenanziehen zum persönlichen Everest wird. Eingeklemmter Nerv, Bandscheibe – irgendsoetwas wird es sein, der berufliche Alltag zwischen Rechner und Kaffeemaschine tut sein Übriges. Ich nehme mir übrigens jedes Mal vor, abseits vom Radweg zur Arbeit, mehr Sport zu machen – vor allem Rückenschule. Aber jedes Mal sind die Schmerzen ja auch irgendwann wieder weg. Ich bin mir vollkommen bewusst, dass sich dieses Problem vergleichsweise einfach lösen ließe. Ich versichere allen, dass ich das in Angriff nehme, ich WILL etwas für eine Besserung tun. Ich tue aber genau: gar nichts.

Ich bin quasi Online-Händler und Online-Kunde, wenn es um Nachhaltigkeit geht. Du meine Güte, was kann ich es nicht mehr hören, wie alle ihr grünes Gewissen gefunden haben wollen, aber nicht bereit sind, auch nur ein bisschen dafür zu tun, Nachhaltigkeit und Klimabewusstsein auch wirklich zu leben. Im E-Shopper-Barometer 2019 von DPD nennen sich 19 Prozent von über 23.000 Verbrauchern „umweltbewusste E-Shopper“. Für 92 Prozent dieser „umweltbewussten“ Kunden ist die Lieferung nach Hause die bevorzugte Versandoption. 53 Prozent der „umweltbewussten“ Kunden kaufen bevorzugt bei chinesischen Anbietern und am liebsten bestellen sie online Mode und Schuhe. Ihr Umweltbewusstsein ist also vereinbar mit straßenverstopfenden Lieferwagen, ultralangen Versandwegen und retourenintensiven Produkten. Ja gut…

Lippenbekenntnisse helfen niemandem weiter

Das Problem wird nicht nur in der DPD-Studie deutlich. Idealo zufolge sind viele Kunden zwar keine Fans von Retouren, aber auf die Möglichkeit, Produkte zu Hause zu testen und bei Bedarf wieder zurückzuschicken, wollen die meisten doch nicht verzichten. Denn natürlich geht es am Ende auch um den Komfort, aber dieses Problem hat der Online-Handel selbst zu verantworten, darum wirken die Lippenbekenntnisse aus der Branche auch so scheinheilig. Denn diese Diskrepanz gibt es freilich nicht nur auf Kunden-, sondern auch auf Anbieterseite. Jahrelang wurde der Verbraucher auf günstige Preise, bequemen Versand und kostenlose Retouren trainiert.

Die ersten Unternehmen, etwa Zalando und Asos, beginnen langsam, gegen die Gratis-Mentalität anzukämpfen, bekommen aber zu spüren, dass Kunden diesen Service mittlerweile erwarten. Ein Großteil macht die Nutzung des Online-Shops sogar von den Versandgebühren abhängig. Aber immerhin haben wir hier Unternehmen, die tatsächlich bereit sind, Änderungen durchzuführen, um ihr nachhaltiges Image nicht nur als plakative Teilnehmerurkunde vor sich herzutragen. Selbst, wenn es beim Käufer zu Ärger führt.

Klimabewusstsein in der Komfortzone

Die Größten im Online-Handel, die nicht unwesentlich für den Status Quo mitverantwortlich sind, bleiben diese Proaktivität bislang schuldig. Im September versprach Jeff Bezos vollmundig die eigene Klimaneutralität bis 2040, er sehe den Kampf gegen den menschengemachten Klimawandel als „wichtige Verpflichtung“, halte ihn sogar für eines der wichtigsten Probleme der Menschheit. Die größte Publicity erhielt der Konzern bislang mit der Tatsache, dass er eigenen Mitarbeitern, die mehr Klimaschutz fordern, mit Kündigung droht. Das ist in Sachen öffentlicher Wahrnehmung, sagen wir mal, ausbaufähig.

Ein Online-Händler allein kann das Problem nicht lösen und eine Handvoll Kunden, die tatsächlich auch mal auf Retouren verzichtet, genausowenig. Am wenigsten aber helfen Lippenbekenntnisse von allen Beteiligten, die Änderungen vortäuschen, die gar nicht da sind und echtes Umdenken nur verzögern, weil sich niemand verantwortlich fühlt. Merken Sie sich meine Worte – Schließlich bin ich derjenige, der beim nächsten eingeklemmten Nerv wieder rumjammert, weil er nicht schon früher aus Wollen auch mal Machen gemacht hat.

Kommentare  

#2 Ingrid Borgert 2021-01-27 14:11
Ich schließe mich dem Kommentar von Markus Finke an.
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#1 Finke Markus 2020-01-29 20:05
Wäre die Welt besser, wenn wirklich jeden Tag die 100-130 Pakete (Einkäufe) eines jeden Lieferfahrzeuge s von den Bestellern persönlich in der City gekauft werden würden. Einfach mal nachdenken. Ein Lieferfahrzeug ersetzt jeden Tag 100-130 Menschen die in die Innenstädte oder Einkaufszentren mit ihren Fahrzeugen Diesel oder Benzin fahren. So easy
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