Kolumne

Carpe diem – in real life

Veröffentlicht: 23.11.2018 | Geschrieben von: Markus Gärtner | Letzte Aktualisierung: 23.11.2018
Zeit verrinnt

Facebook hat ein neues Tool in seiner App gestartet: Die mobilen Nutzer können jetzt sehen, wie viel Zeit sie in dem Netzwerk verbringen – oder sollte man gleich sagen, wie viele Stunden sie opfern? Der Nutzer soll vordergründig mit der Analyse wohl mündiger gemacht und einer Abhängigkeit entgegen gewirkt werden, wie die Internet World berichtet. Man kann ein Zeitlimit einstellen, nachdem man eine Erinnerung bekommt, die App zu schließen und etwas anderes zu tun. Ob man dann weiter durch die blaue FB-Welt scrollt, darf jeder selbst entscheiden: Da poppen kurz ein paar Zahlen hoch, Zack – weggeklickt. Weiter blau machen. 

Ich musste mich beim Lesen der Nachricht an meine Zeit erinnern, in der die Deadline für die Abgabe der akademischen Abschlussarbeit unweigerlich und in dramatischen Intervallen näher rückte. Als quasi ausgebildeter Prokrastinateur war Facebook natürlich ein wichtiger Punkt auf der Agenda des Ablenkens – brachte mich und mein Studienende aber damit ernsthaft in Gefahr. Meine einzige Rettung damals: Programme, bei denen man genau einstellen kann, wann und wie bestimmte Webseiten gesperrt werden. Dann war kein sinnloses Rumgeklicke mehr möglich.

Will Facebook wirklich, dass wir uns der Zeit bewusst werden?

Die Facebook-Nutzung geht weiter zurück – und da soll ein Unternehmen ernsthaft Interesse daran haben, seinen Nutzern ihre Sitzungszeit vorzubeten und ihnen ein virtuelles Absprungbrett hinzuhalten? Das Tool ist ein Feigenblatt: Also, wir machen was, damit ihr eure kostbare Lebenszeit hier nicht verschwendet – upps, da ist es auch schon wieder ausgeblendet! Vielleicht hofft Mark Zuckerberg mit der erhöhten Zeit-Sensibilität auch auf mehr Zufriedenheit der Nutzer – aber wäre es da nicht viel sinnvoller, das Netzwerk, das ja Menschen verbinden will, inhaltlich zu verbessern? 

Zurück zur Zeit. Weihnachten steht bald wieder vor der Tür und gerade dann wird vielen Menschen der Wert von Zeit wieder bewusst: Nach langer Fahrt endlich wieder bei den Eltern oder anderen Verwandten, Kinder müssen gefühlt ewig auf die Bescherung warten – und am Ende ist alles wieder viel zu schnell vorbei, wie immer. Aber eins kann wohl jeder in seiner Familie beobachten: Sicher wird auch an Weihnachten wieder das eine oder andere Smartphone gezückt (besonders, wenn es gerade neu ist), um vermeintliche Gesprächs- oder Aktivitätspausen zu überbrücken – oder vielleicht sogar, um den Dialog mit manchen Verwandten gar nicht erst aufkommen zu lassen. 

Natürlich kann und soll jeder seine Zeit nutzen, wie er will. Aber ebenso sollte sich auch jeder über seine wahren Prioritäten stets im Klaren sein: Was ist gerade wirklich wichtig, für mich und andere? Laut einer aktuellen Umfrage nimmt über ein Drittel der Deutschen die Digitalisierung überwiegend in der Freizeit wahr. Aber: Rund 30 Prozent verbinden mit dem Begriff Digitalisierung vor allem Sorge oder Genervtheit. Vielleicht kann man dem ein oder anderen etwas davon abnehmen, nicht nur an Weihnachten. Oder, wie der französischer Schriftsteller und erste Literatur-Nobelpreisträger Sully Prudhomme es formuliert hat: „Es gibt ein untrügliches Maß für die Zuneigung: die Zeit, die man ihr widmet.“ Und sicher haben Familie und enge Freunde davon mehr verdient als Mark Zuckerberg. 

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