Interview mit Recruiting-Expertin Olga Ignateva

Frauen werden schlechter bezahlt, damit Unternehmen Kosten sparen

Veröffentlicht: 26.03.2024 | Geschrieben von: Hanna Behn | Letzte Aktualisierung: 26.03.2024
Frau hält Stapel mit unterschiedlich vielen Münzen in den Händen

Eine Gleichberechtigung von Frauen und Männern am Arbeitsmarkt gibt es nicht – der Verdienstunterschied ist weiterhin enorm. Ein Report des Job-Portals Indeed zeigte kürzlich, dass das auf Rollenklischees und Sexismus zurückzuführen ist. 

Arbeitgeber allein sind dafür nicht verantwortlich, betont die HR-Expertin Olga Ignateva. Doch sie können etwas für mehr Gerechtigkeit tun. Ignateva ist Head of Global Recruitment bei der Online-Marketing-Firma Semrush. Das Unternehmen setzt sich proaktiv dafür ein, eine ausgeglichene Geschlechterquote im Unternehmen zu haben – in allen Bereichen. 

Im Gespräch schildert die Personalchefin, warum es weiterhin so eine starke Ungleichbehandlung für Frauen gibt und erläutert, mit welchen Maßnahmen sie ihre HR-Strategie durchsetzt.

Eine vollständige Gleichstellung? Frühestens in 100 Jahren

OnlinehändlerNews: Laut einer aktuellen Umfrage fühlen sich Frauen in der Arbeitswelt benachteiligt – und wenn man sich die Statistiken anschaut, sind sie es auch. Wie kann es sein, dass die Ungleichheiten immer noch nicht überwunden sind? 

Olga Ignateva: In den Prognosen internationaler Organisationen wird offen gesagt, dass die vollständige Gleichstellung erst in vielen Jahren erreicht sein wird. Einige Studien sprechen sogar von einem alarmierenden Zeitraum von 100 bis 132 Jahren. Dabei wird auch die Pandemie berücksichtigt, die uns mehrere Jahrzehnte zurückgeworfen hat. Diese Lücke ist also nicht plötzlich aufgetreten, sondern ist fortlaufend entstanden und vorhersehbar. 

Die Frage ist nicht wann, sondern warum Ungleichheiten so langsam überwunden werden und warum auf Regierungsebene noch keine vollwertigen Pläne hierzu entwickelt worden sind. Und jetzt spreche ich nicht nur von Quoten, sondern auch von sozialen Aspekten wie geschlechtsspezifischer Werbung, Veränderungen im Bildungssystem, soziale Garantien, medizinische Forschung und vieles mehr.

Wie kann man von der Gleichstellung der Geschlechter sprechen, wenn die Werbung für Waschmittel und Babyprodukte immer noch auf Frauen abzielt und allein das weibliche Geschlecht mit der Hausarbeit in Verbindung bringt? Die meisten Frauen haben zudem eine zweite „Schicht“ nach der Arbeit zu Hause, selbst in fortschrittlichen Ländern. Sie sind nach wie vor in erster Linie für die Kindererziehung (und die damit verbundenen Urlaubs- und Krankheitstage) zuständig und die lokalen Regierungen unterstützen dies.

Mehr Frauen in Führungspositionen – „kaum etwas, das wir im Moment feiern sollten“

Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe dafür, dass Frauen im Durchschnitt immer noch schlechter bezahlt werden als ihre männlichen Kollegen? 

Wenn wir diese Frage aus der Perspektive zweier zufällig ausgewählter Mitarbeiter betrachten, ohne dass wir das Geschlecht kennen, würden wir den Umstand, warum der eine weniger Lohn als der andere erhält, mit den Argumenten Produktivität, Erfahrung und dem Beitrag zum Wachstum des Unternehmens begründen. Wir würden zu dem Schluss kommen, dass der „unterbezahlte“ Mitarbeiter entweder schlechter arbeitet oder, dass das Unternehmen einfach unethisch an einem von zwei gleich effizienten Mitarbeitern spart.  

Statistiken zeigen, dass alle Frauen im Durchschnitt weniger verdienen als Männer, was die erste Möglichkeit ausschließt. Die einzige logische Antwort ist also eine geschlechtsspezifische Diskriminierung, um Kosten einzusparen. 

 

Unterstützen Unternehmen derzeit die strukturelle Diskriminierung von Frauen? Welche Verantwortung haben Arbeitgeber, wenn es um die Gleichstellung geht?

Untersuchungen zeigen, dass strukturelle Diskriminierung immer noch weit verbreitet ist. Außerdem gibt es einen Zusammenhang zwischen Führungspositionen bzw. überdurchschnittlich gut bezahlten Tätigkeiten und Diskriminierung. Natürlich gelangen heutzutage mehr Frauen in Führungspositionen, aber das ist kaum etwas, das wir im Moment feiern sollten. Leider verschlechtert sich die Gleichstellung der Geschlechter schneller, als wir Fortschritte machen. Wir können in vielen Ländern der Welt Beispiele dafür sehen. 

Ich muss noch einmal betonen, dass die Verantwortung dafür nicht allein auf die Arbeitgeber abgewälzt werden kann. Sie halten sich nur an die allgemein anerkannten Normen und Regeln in dem Land, in dem sie tätig sind. 

Gleichstellung – nicht nur formal, sondern auch in der Realität

Semrush möchte eine ausgewogene Geschlechterquote in allen Bereichen des Unternehmens erreichen. Wie sieht die aktuelle Mitarbeiterquote aus, was ist noch zu tun?

Eine ausgewogene Geschlechterquote zu erreichen, ist einer der wichtigsten Bestandteile unserer HR-Strategie. Unsere starke Frauen-Community bringt ständig neue Ideen und Verbesserungen hervor. Außerdem haben wir interne Regeln dafür, wie das Recruiting-Team arbeiten soll. Hierbei geht es vor allem um langfristige Maßnahmen.  

So führen wir beispielsweise Anti-Bias-Schulungen für Manager und Teams durch und stellen sicher, dass alle Geschlechter in der Endphase der Stellenbesetzung gleichmäßig vertreten sind.

Wenn man sich die formalen Daten auf oberster Ebene anschaut, zum Beispiel das Verhältnis von Frauen und Männern oder die Gehälter, entspricht alles in unserem Unternehmen den Standards. Wir wollen dem Thema Gleichstellung aber nicht nur formal, sondern auch in der Realität entsprechen. Deshalb arbeiten wir an einem ausgewogenen Verhältnis der Geschlechter in allen Positionen, Standorten und Karrierestufen. 

Es ist eine Sache, dass das Geschlechterverhältnis ausgewogen ist – es ist eine andere, dass dieses Verhältnis auch für Führungspositionen gilt. Wie ist die Situation bei Semrush?

Wenn wir über Leitungs- und Führungspositionen sprechen, haben wir ein gleiches Verhältnis von Frauen und Männern. Natürlich gibt es immer Bereiche, in denen wir uns verbessern können. Unser HR-Team konzentriert sich darauf, den Anteil von Frauen im oberen Management für jede offene Position zu erhöhen. Das geht nicht so schnell, denn je höher die Position, desto weniger auf die Stelle passenden Kandidaten stehen zur Auswahl.

Strukturelle Diskriminierung sorgt für weniger Frauen in bestimmten Positionen

Welche konkreten Schritte unternimmt Semrush, um eine ausgewogene Quote zu gewährleisten? Wie stellt das Unternehmen beispielsweise sicher, dass niemand bei der Besetzung freier Stellen diskriminiert wird?

Wir prüfen die Ausgewogenheit der Geschlechter in jeder Phase des Recruiting-Prozesses, aber am wichtigsten ist für uns die gleichmäßige Vertretung der Geschlechter unter den Bewerbern in der letzten Phase. 

Die Personalabteilung hat an einer internen Schulung teilgenommen, bei der wir die Probleme des Marktes untersucht und gemeinsam nach Lösungen gesucht haben. Diese Schulung ist für uns ein wichtiger Schritt, unsere Werte zu leben und nicht nur eine Pflichtschulung zur Einhaltung von Normen.

 Wir wissen zum Beispiel, dass es weniger Frauen in bestimmten Positionen gibt. Nicht, weil sie weniger begabt oder fleißig sind, sondern einfach, weil sie in anderen Unternehmen strukturell diskriminiert werden und langsamer in höhere Positionen befördert werden. Oder weil sie noch immer nicht den gleichen Zugang zu denselben Bildungsmöglichkeiten haben wie Männer. In diesem Fall haben wir zwei Arbeitsschwerpunkte:

  • Gezielte Entwicklung und Förderung von Frauen unter den Semrush-Mitarbeitern.
  • Wir scannen den Markt genauer und gezielter, sprechen Frauen individuell an und machen Angebote nicht nur für bestehende Stellen, sondern auch für potenzielle neue Stellen.

Eine faszinierende Erkenntnis ist, dass Frauen in Führungspositionen seltener den Arbeitsplatz wechseln. Diese Daten aus weltweiten Studien wurden auch durch die von uns durchgeführten Studien bestätigt. Der Grund dafür ist die höhere Loyalität gegenüber ihrem Arbeitgeber. Gleichzeitig bleiben viele Frauen, wohl wissend, dass es in anderen Unternehmen Diskriminierung gibt, bei ihrem Arbeitgeber, bei dem sie auf ihrem Karriereweg keine negativen Erfahrungen gemacht haben. 

Welche konkreten Auswirkungen hatten die Maßnahmen auf den Geschäftserfolg? Wie haben Sie dies festgestellt?

Diese Veränderungen vollziehen sich weder schnell noch dauerhaft. Für abschließende Schlussfolgerungen ist es daher noch zu früh. Es zeichnet sich jedoch ab, dass Arbeitgeber, die nicht auf Vielfalt setzen, ein Vielfaches für die gleiche Sichtweise bezahlen. Ihnen entgehen viele Ideen und Perspektiven, wenn Sie keine Frauen in die Teams und insbesondere in das Management aufnehmen.

Untersuchungen zeigen, dass Unternehmen mit einer vielfältigen Führungsstruktur in Finanzindizes mit 35 Prozent höherer Wahrscheinlichkeit besser abschneiden als ihre weniger vielfältigen Konkurrenten. Vielfalt führt auch zu innovativem Denken: Unternehmen mit einem hohen Maß an Geschlechtervielfalt geben mit 15 Prozent höherer Wahrscheinlichkeit an, kreativer zu sein als der Branchendurchschnitt. 

Vielen Dank für das Gespräch! 


Olga Ignateva / Semrush

Über Olga Ignateva

Olga Ignateva ist Head of Global Recruitment bei dem börsennotierten US-Unternehmen Semrush. Sie verantwortet das globale Recruitment bei dem SaaS-Unternehmen und treibt dort auch das Thema Gleichberechtigung voran.

Semrush ist bestrebt, eine ausgeglichene Geschlechterquote in allen Bereichen zu erreichen und fördert dies proaktiv.

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Artikelbild: http://www.depositphotos.com

Über die Autorin

Hanna Behn
Hanna Behn Expertin für: Usability

Hanna fand Anfang 2019 ins Team der OnlinehändlerNews. Sie war mehrere Jahre journalistisch im Bereich Versicherungen unterwegs, dann entdeckte sie als Redakteurin für Ratgeber- und Produkttexte die E-Commerce-Branche für sich. Als Design-Liebhaberin und Germanistin hat sie nutzerfreundlich gestaltete Online-Shops mit gutem Content besonders gern.

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