Kennen Sie TikTok? Falls Nein, fragen Sie doch x-beliebige Teenies – die werden’s wahrscheinlich wissen. Denn die App boomt zwar vor allem bei der jugendlichen Zielgruppe, schaffte aber gerade erst auch einen historischen Rekord: Zwei Milliarden Downloads seit 2014, das gab es bisher nur bei Facebook, WhatsApp und Instagram. Eine aktuelle Studie von Qustodio geht davon aus, dass TikTok bei Kids bald beliebter sein könnte als YouTube.
Was ist das Erfolgsrezept des weltweiten Phänomens? TikTok ist eine Mischung aus Videoportal und sozialem Netzwerk. Inhalte-Ersteller – sogenannte Creators – können relativ simpel maximal einminütige Filmclips kreieren, diese mit Musik unterlegen, mit vielen einfachen Effekten aufhübschen und mit thematischen Hashtags in die Community schicken, fertig ist der kurze Ruhm – vielleicht. Denn nur wenn der Clip gefällt, gibt es Herzchen in Millionenzahl.
Jede Menge davon hat die US-Amerikanerin Charli D'Amelio bereits – plus über 60 Millionen Follower, so viel wie kein anderer auf dem Video-Netzwerk. Die 16-Jährige hat in über einem Jahr rund 1.200 Videos gemacht und wurde von der New York Times als die „regierende Königin von TikTok“ bezeichnet. Zuvor, als die App noch musical.ly hieß, waren die Stuttgarter Zwillingsschwestern Lisa und Lena Mantler die bekanntesten Gesichter. Derzeit ist „Falco Punch“ mit rund 8,3 Millionen Fans der deutsche TikTok-Superstar. Auch immer mehr Stars und Unternehmen nutzen das Social-Video-Netzwerk.
Und so funktioniert die App: Man kreuzt zum Start ein paar Interessen an und bekommt dann die ersten Videos angezeigt – bei meinem Test ist es zum Beispiel der Deutsch-Rapper Capital Bra, der sich zum Spaß mit irgendeinem anderen Menschen balgt, danach das kreative Schneiden einer Wassermelone, naja.
Unter sogenannten Challenges findet man viele unterschiedliche Videos von Nutzern zum selben Thema, etwa eine kleine Aufgabe. Bei Nichtgefallen eines auch noch so kurzen Clips hält man lange gedrückt oder wischt einfach nach oben – quasi Tinder für Videos. Schnell wird klar: TikTok ist ein audiovisuelles Konsum-Fließband, vor allem für junge Menschen mit kurzem Aufmerksamkeitsfokus. Teenies sind die Haupt-Nutzer- und Zielgruppe der Video-Sharing-App. Das offizielle Mindestalter für einen TikTok-Account beträgt 13 Jahre – kontrolliert wird es nicht.
TikTok, in China bekannt als Douyin, gehört zu dem chinesischen Unternehmen ByteDance, das für viele Experten als wertvollstes StartUp der Welt gilt. Die Tech-Firma hatte 2017 die Mitsing-App musical.ly für rund eine Milliarde US-Dollar gekauft und in TikTok aufgehen lassen.
Immer mehr Händler und Unternehmen in Deutschland entdecken jetzt die Möglichkeiten von TikTok – wie etwa Otto. Das Unternehmen hat zwei sogenannte Hashtag Challenges durchgeführt, bei denen die TikTok-Nutzer zu einem Slogan eigene Videos posten konnten. Den 70. Geburtstag des Traditionsunternehmens wollte man im Juni 2019 gemeinsam mit den TikTok-Followern feiern und launchte mit der Influencerin Katulka die Kampagne #MachDichZumOtto. Kurz vor Weihnachten 2019 hieß #FreuDichHart: Nutzer bekamen in einem extra Feld auf der App per Zufall ein Produkt zugelost, etwa Xmas-Socken, und sollten dann ausrasten vor Glück.
Beide Kampagnen waren laut Otto ein voller Erfolg und erzielten 149 Mio. bzw. 111 Mio. Views (Seitenaufrufe) innerhalb einer Woche. „Zu #FreuDichHart haben die User*innen innerhalb von sieben Tagen 95.000 Videos hochgeladen – das ist 95.000 Mal Content, in dem sich jede*r Creator zumindest kurz mit der Marke Otto beschäftigt“, erklärt Sahra Al-Dujaili, Social-Media-Chefin bei Otto.
Mit TikTok wolle das Unternehmen seine Marke verstärkt auch bei den 16- bis 25-Jährigen positionieren. „TikTok stellt eine Gegenbewegung zu der perfekten Inszenierung auf anderen Social-Media-Plattformen dar. Die User*innen wollen hier keinen perfekten, überaus ästhetischen Content sehen, sondern echte Inhalte. Das können Unternehmen nutzen, um den User*innen den kreativen Freiraum zu geben, sich persönlich mit der Unternehmensmarke auseinanderzusetzen“, erläutert Al-Dujaili.
Online-Modehändler Zalando hat sich ebenfalls schon auf dem Video-Netzwerk ausprobiert und eigene Marketingkampagnen gefahren. Anna Meyfarth, Chief Brand und Marketing Communication Manager bei Zalandos Influencer-Marketing-Plattform Collabary, bestätigt das Erfolgsprinzip Echtheit. Marken müssten daher den TikTok-Creators vertrauen und ihnen mehr Freiraum bei der Gestaltung des Content lassen, die Markenbotschaft glaubwürdig einzubetten und wiederzugeben. „Wir haben gesehen, dass Videos mit starken, für die Zuschauer sichtbaren Vorgaben von Marken deutlich schlechter performen und authentische, freie Videos das bis zu Fünffache an Views generieren. Qualität und Kreativität stehen also im Vordergrund bei Inhalten auf TikTok: Je mehr Potenzial ein Video hat, zu einem allgegenwärtigen Trend zu werden, desto besser.“
Aber wie müssen erfolgreiche Videos aussehen und worauf müssen Unternehmen achten, wenn sie bei TikTok nach der jungen Zielgruppe fischen? Felix Beilharz ist Social-Media-Experte und hat unter anderem Lufthansa, L’Oreal und Motorola beraten. TikTok könnte künftig sogar nicht nur für jüngere Zielgruppen interessant sein, meint Beilharz. „Händler, die davon ausgehen, dass TikTok den gleichen Weg wie Facebook, YouTube und Instagram gehen und von einem Teenie-Kanal zum Massenmedium breiterer Altersklassen wird, können sich jetzt auch noch recht frühzeitig dort ihren Claim abstecken“, empfiehlt er.
Doch dabei lauern einige Hürden, denn Unternehmen müssen das neue Videoclip-Netzwerk, seine Formate und auch dessen Zuschauer und Creators erst verstehen. Deichmann habe etwa zunächst mit Influencern zusammengearbeitet, statt sofort eigene Videos zu produzieren. Beilharz’ wichtigster Ratschlag an TikTok-interessierte Firmen: „Mach dich zum Affen, ohne dich zum Affen zu machen! Das heißt, Unternehmen müssen sich auf die Gegebenheiten einlassen – was auch mal heißen kann, viel lockerer und ‘bunter’ aufzutreten als bisher. Wer langweilt, fliegt raus.“ Er warnt aber auch: „Gleichzeitig wirkt es oft peinlich, wenn man krampfhaft versucht, cool zu wirken.“
Auch Sahra Al-Dujaili von Otto kennt diese Herausforderung. „Mit TikTok agieren wir auf einer Plattform, die uns ganz andere Arbeitsweisen abverlangt als die bisher frequentierten Social-Media-Kanäle. Bei TikTok müssen wir uns stärker öffnen, noch mehr dialogfähig sein und statt Werbung gesellschaftlich relevante Inhalte und Botschaften anbieten und Position beziehen.“
Wie ein Unternehmen seine Kampagne am Ende dann gestalte, hänge natürlich vor allem von den jeweils definierten Zielen ab, sagt Andrea Rungg, Senior Director Communications von TikTok Deutschland. Auch sie rät Unternehmen, auf die Kreativität der Nutzer zu bauen. „Indem wir Nutzer*innen ihre eigenen Inhalte für Kampagnen erstellen lassen, können Marken ihnen ein Gefühl von Zugehörigkeit vermitteln und sie so zu authentischen und einflussreichen Botschaftern machen. Dies steigert die Markenwirkung ungemein, da sich die Nutzer*innen besser an die Marken erinnern“, meint Rungg.
Deutschland sei für TikTok einer der wichtigsten Märkte überhaupt. Derzeit arbeiten laut Rungg hierzulande rund 100 Mitarbeiter am Ausbau der TikTok-Community. TikTok Deutschland bietet Unternehmen und Marken diese Werbeformate an:
TikTok arbeitet außerdem an Funktionen, die langfristig auch das Online-Shopping in der App ermöglichen könnten. So testet das Unternehmen außerhalb Europas gerade einen Call-to-Action-Button in den Creator-Videos, wie das US-Tech-Portal digiday berichtet.
Social-Media-Experte Beilharz sieht in diesem Bereich eine große Zukunft für das Video-Netzwerk. „TikTok ist wohltuend kreativ, was Social-Commerce-Möglichkeiten und Monetarisierungsoptionen angeht. Bei Instagram hat es Jahre gedauert, bis eine Shop-Funktion eingeführt wurde und nochmal länger, bis es weltweit verfügbar war. TikTok schafft das zumindest in den Testversionen sehr viel schneller.“
Ein steter Wermutstropfen bei TikTok sind – wie bei fast jedem sozialen Netzwerk – jedoch die immer wiederkehrenden Probleme bzw. Vorwürfe bezüglich des mangelnden Datenschutzes. Rungg versichert, Privatsphäre und Sicherheit der Nutzer hätten bei TikTok „höchste Priorität“. In den vergangenen Monaten hat TikTok unter anderem den Begleiteten Modus eingeführt: Mit diesem In-App-Feature können Eltern zum Beispiel die Bildschirmzeit, Kontaktmöglichkeiten und Filterung des Nutzer-Feeds ihres Kindes einstellen. Seit April 2020 können nur noch Nutzer ab 16 Jahren Direktnachrichten verschicken, um noch jüngere Nutzer zu schützen.
Otto wird künftig weiterhin auf TikTok setzen, sagt Sahra Al-Dujaili: „TikTok erweitert unsere Marketingstrategie in Richtung einer jüngeren Zielgruppe, die anders mit Marken interagiert als andere Zielgruppen. Hier geht es darum, für die Zielgruppe relevante Botschaften und echten Mehrwert zu haben.“ Spannend wäre für sie, wenn TikTok Features wie z. B. eine direkte Vertaggung von Produkten ausbauen würde.
Auch Felix Beilharz glaubt, dass die Musik bei der Video-Sharing-App noch lange nicht aus ist. „TikTok ist in der Masse bereits so beliebt wie es Snapchat auch zu besten Zeiten nie war. Ich schätze, TikTok ist gekommen, um zu bleiben.“