Interview mit Sören Stamer

„Menschliche Note“? So funktioniert „richtiger“ KI-Einsatz im Online-Handel

Veröffentlicht: 10.04.2024 | Geschrieben von: Christoph Pech | Letzte Aktualisierung: 11.04.2024
Online-Shopping

Künstliche Intelligenz hat längst Einzug in viele Online-Shops gehalten. Mit KI lässt sich effektiver personalisieren, Chatbots können Fragen beantworten, automatisierte Algorithmen passen Suchergebnisse an. Das Problem: Solche Features nutzt mittlerweile die ganze Branche, aber wie setzt man sich von der Konkurrenz ab? Für Sören Stamer, CEO und Mitgründer von CoreMedia, ist der entscheidende Faktor nicht noch mehr Technisierung, sondern die „menschliche Note“.

Im Interview mit OHN erklärt Stamer, was er damit meint, wo KI an Grenzen stößt und was sie längst besser kann als jeder Mensch es könnte. Am Ende kommt es auf den „richtigen“ KI-Einsatz an.

Die „menschliche Note“

OHN: Es wird viel darüber diskutiert, was KI uns alles abnehmen kann. Workshops, Webinare und Coachings zeigen, wie wir mit KI unser Business optimieren. Du forderst die Wiederentdeckung der „menschlichen Note“ – sollen wir unsere Arbeit also doch nicht automatisieren und optimieren?

Sören Stamer: Doch, auf jeden Fall! Es geht jetzt und in den nächsten Jahren darum, die Prozesse der Online-Händler weiter zu automatisieren und zu personalisieren. Auch im Bereich Segmentierung und Personalisierung können unsere KI-Lösungen eingesetzt werden, um große Mengen an Nutzerdaten zu analysieren und zu segmentieren. Das ermöglicht es, Kundenbedürfnisse besser zu verstehen und in Echtzeit darauf zu reagieren. KI ist außerdem sehr gut darin, Content in großen Mengen zu personalisieren. Fünf Varianten reichen nicht mehr aus für Hyperpersonalisierung, heutzutage brauchen sie 30 Varianten oder mehr. Diese Skalierung ist mit Menschen nicht machbar. 

Aber?

Wenn es darum geht, einen Mehrwert in der Customer Journey zu bieten, ist die menschliche Note ein Differenzierungsmerkmal. Eine aktuelle Studie zeigt: Vor allem bei höherpreisigen Produkten im Premium-Segment oder komplexen, erklärungsbedürftigen Angeboten wie Verträgen oder Versicherungen wünschen sich viele Menschen zusätzlich den Kontakt mit echten, realen Menschen, die sie als Teil einer nahtlosen Customer Journey informieren und beraten. Die menschliche Note, von der ich spreche, kommt per Anruf, Live-Chat oder Videocall nach einem Klick des Kunden zustande. Dieser Kunde ist also parallel auf einer Website oder in einem Online-Shop unterwegs und hat ein Informationsbedürfnis zu einem Produkt, das der Anbieter mit den gängigen Methoden der Automatisierung oder der KI des Online-Shops nicht lösen kann. 

Der Mehrwert gegenüber einem klassischen Verkaufsberater besteht darin, dass der digitale Support frühere Einkäufe des Kunden, das Kundenprofil, seine Warenkorbgrößen, vorherige Suchen usw. einsehen und bei seinen Beratungen per Videocall direkt berücksichtigen kann. Dadurch werden etwa Upselling und eine viel zielgenauere und bessere Beratung möglich. 

Darüber hinaus kann KI auch bei der Identifizierung potenziell besonders wertvoller Kunden helfen, die möglicherweise Hilfe benötigen. Beispielsweise, wenn sie ihren Einkauf nicht abschließen oder bestimmte Produkte zwar länger oder mehrfach betrachten, aber nicht kaufen. Diese Erkenntnisse ermöglichen es Händlern, gezielt die Möglichkeit anzubieten, mit nur einem Klick einen Berater zu kontaktieren und so den Return on Investment (ROI) zu steigern. 

Auch wenn der Kunde bei einem Produkt unsicher ist, kann der beratende Verkäufer den kaufentscheidenden Impuls geben. Das freut den Kunden und ist gut für die Conversion! Wichtig ist also die Nutzung von Automatisierung und KI in Kombination mit gezieltem menschlichem digital vermitteltem Support. 

Von der Konkurrenz abheben

Verleitet künstliche Intelligenz dazu, Aufgaben abzugeben oder zu automatisieren, die lieber in Menschenhand bleiben sollten?

Ohne KI geht es nicht mehr. Wenn KI einen Mehrwert für Online-Händler oder Verbraucher stiften kann, indem sie aus Kundensicht besser berät, schneller guten Content bereitstellt oder präziser übersetzt, dann ist das doch fantastisch! Andererseits kann es förderlich für den Verkauf sein, sich nicht ausschließlich auf KI, Automatisierung und Personalisierung zu verlassen.

Denn das machen heute schon sehr viele Online-Händler – für Kunden stellt sich da die Frage, wodurch sich die Händler dann überhaupt noch unterscheiden? 64 Prozent der Verbraucherinnen und Verbraucher sind der Ansicht, dass Unternehmen den menschlichen Aspekt in der Online-Kundenerfahrung vernachlässigen. Bei diesen Kunden kann es wesentlich effektiver sein, einen freundlichen und engagierten Verkaufsberater zur Verfügung zu stellen – so profitieren beide: der Shop von weniger Kaufabbrüchen und größeren Warenkörben und Kunden sind zufriedener, fühlen sich wertgeschätzt und kommen bei einer zuvorkommenden Behandlung sicher schon bald wieder. 

Ebenfalls spannend finde ich Live-Shopping-Shows auf Social-Media, wie sie in China gerade einen großen Boom erleben. Dabei werden nicht nur hochpreisige Produkte verkauft. Allerdings sind mehrere Kunden gleichzeitig im Stream.

Sören Stamer

Wie sieht darüber hinaus „richtiger“ KI-Einsatz aus, gerade speziell im E-Commerce?

„Richtiger“ Einsatz im E-Commerce bedeutet, diese Technologie so zu nutzen, dass sie sowohl das Kundenerlebnis verbessert als auch den Geschäftswert steigert. Dabei steht die Balance zwischen Automatisierung und Personalisierung im Vordergrund. Um einen effektiven Einsatz im E-Commerce zu gewährleisten, sollte KI genutzt werden, um Kundenbedürfnisse in Echtzeit zu verstehen, On- und Offsite-Kundenerlebnisse über alle Kanäle hinweg zu personalisieren, Kunden gezielt zu unterstützen, ihren Kauf abzuschließen, wenn sie Hilfe benötigen und natürlich Erfolgszahlen zu analysieren und in Echtzeit zu optimieren, etwa durch A/B Testing.

Hast du ein konkretes Beispiel?

Stell dir vor, du suchst gerade auf einer Website nach einem Produkt, das du kaufen möchtest. Du bist dir unsicher bei der Größe, den Vorteilen unterschiedlicher Produkte und auch bei der Frage, welche Version dein Bedürfnis am besten befriedigen würde. Bestellen und im Zweifel zurückschicken? So funktioniert es derzeit häufig und das hat vielen Händlern Margen- und Retourenprobleme eingehandelt. 

Und jetzt stell dir vor, du kannst mit dem Vertrieb auch chatten oder reden. Ihr könntet gemeinsam Co-Browsen und ein geführtes Verkaufsgespräch nutzen, bei dem der Berater dir live die Vor- und Nachteile der Produktvarianten erläutern würde. Der nächste Entwicklungsschritt im E-Commerce wird die Auflösung der Trennung von digitalem Kanal und menschlicher Interaktion sein. Das wird im B2C starten und sich danach auch im B2B-Sektor verbreiten. 

„Richtiger“ KI-Einsatz setzt aber auch voraus, dass Technologie ethisch und kundenorientiert eingesetzt wird, mit einem klaren Bekenntnis zu Datenschutz und Transparenz. Unternehmen sollten sicherstellen, dass ihre KI-Systeme nicht nur die Effizienz steigern, sondern auch echte Werte für den Kunden schaffen, indem sie ein nahtloses, personalisiertes und sicheres Einkaufserlebnis bieten.

 

KI: Kein Luxus, sondern Standard

Viele Anbieter werben damit, durch KI-Chatbots oder automatisierte Kommunikation via Messenger nicht nur Zeit zu sparen, sondern Kund:innen auch viel besser beraten zu können – haben sie Unrecht?

Für Anbieter, die über gepflegte Daten verfügen, ist es zunächst einmal absolut vernünftig, sich für diese Technologie zu entscheiden. Bei sich häufig wiederholenden Fragen der Kunden und bei einfachen Produkten wie z. B. T-Shirts, Sonnenschirmen oder Accessoires fürs Badezimmer ist es auch ökonomisch sinnvoll, automatisiert und mit KI zu antworten. Schließlich erhöht ein Verkaufsberater auch die Kostenstruktur des Anbieters. 

KI ist aber niemals eine Luxus-Experience, weil alle anderen das auch haben. Das ist Commodity. Wenn wir hingegen auf unsere Kunden im Luxusbereich schauen – Stichwort Designertasche – wer würde sich da nicht einen empathisch agierenden Menschen wünschen? Und die Erfahrung zeigt auch: Sehr viele Menschen sind dann auch bereit, für den zusätzlichen besonderen Service einen entsprechenden Preisaufschlag zu zahlen.  

Wo ziehst du die Grenze? Was kann KI im E-Commerce-Kontext besser als Menschen und was nicht?

Manche Shops haben 10.000 Produkte und mehr, hinzu kommen unterschiedliche Regionen und Nutzersegmente. Da sprechen wir schnell über enorme Datenmengen. In Echtzeit alle Produktinformationen, vorrätige Varianten und Größen mit dem eingeloggten Kundenprofil und vorherigen Bestellungen abzugleichen und darauf basierend Kaufempfehlungen zu geben – das ist übermenschlich und niemals wird ein Mensch hier auch nur annähernd das leisten können, was KI schon lange kann.  

Aber kann eine KI auch die Mimik, Gestik, Stimmlage und unausgesprochene Wünsche eines Kunden interpretieren, sich empathisch in die Stimmung des Kunden einfühlen? Bis heute habe ich das noch nicht erlebt und in den kommenden Jahren werden wir das auch nicht als gängig am Markt erleben. Als Barriere kommt die diffuse Technologieskepsis in Deutschland hinzu. Persönlicher Kontakt ist hierzulande noch höher wertgeschätzt als in den angloamerikanischen Ländern. 

Langer Weg

Geht es am Ende nicht um Kontrolle? KI macht das Geschäftsleben auf vielen Ebenen leichter, aber nur solange der Mensch die Fäden in der Hand behält.

In gewisser Weise schon. Auch wenn erste KI-Modelle sich schon selbst reflektieren können und etwa beginnen, ihre Beratungsleistung in Bezug auf Kundenwünsche einzuschätzen: So etwas hat noch kein kommerzieller Shop tatsächlich in der Anwendung. Es wird Shops geben, die nur auf reine KI-Beratung setzen. Sofern es profitabel ist, wird es auch ein Geschäftsmodell geben, mit dem dieses Szenario angeboten wird – ob dann dort Kontrolle abgegeben wird, wird eine untergeordnete Rolle spielen, solange die Kasse stimmt. Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg und solange wird es in vielen Fällen das Effektivste sein, gezielt einen menschlichen Berater hinzuziehen zu können, um die Kundenerfahrung zu verbessern und die Umsätze zu steigern.

Vielen Dank für das Gespräch!

Artikelbild: http://www.depositphotos.com

Über den Autor

Christoph Pech
Christoph Pech Experte für: Digital Tech

Christoph ist seit 2016 Teil des OHN-Teams. In einem früheren Leben hat er Technik getestet und hat sich deswegen nicht zweimal bitten lassen, als es um die Verantwortung der Digital-Tech-Sparte ging. Digitale Politik, Augmented Reality und smarte KIs sind seine Themen, ganz besonders, wenn Amazon, Ebay, Otto und Co. diese auch noch zu E-Commerce-Themen machen. Darüber hinaus kümmert sich Christoph um den Youtube-Kanal.

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Kommentare  

#1 Dirk 2024-04-11 10:13
Ich habe bis jetzt noch nicht einmal erlebt, dass ein Chatbot konkret mit zusätzlichen Informationen weitergeholfen hat, die nicht z.B. in den Produktdetails ersichtlich waren.
Stattdessen beschränkt sich der KI-Einsatz bisher überwiegend darauf, dass die KI anhand meiner Frage den Datenbestand nach gleichlautenden Begriffen absicht und mir Auszüge aus den Produktdetails, den versandbedingun gen etc. präsentiert - also alles Dinge, die ich auch selber lesen kann - und tatsächlich gehöre ich zu den Menschen, die erstmal selbst lesen und nach Antworten suchen, z.B. unter Versand, Rückgabe oder FAQ.
Aber in Zeiten von Insta und TikTok wird Selbst-Lesen ja zur aussterbenden Eigenschaft.
Wenn man seine Produkte und den Shop vernünftig mit Informationen bestückt und pflegt, erübrigen sich Chat-Bots eigentlich komplett.
Das einzig Sinnvolle, was ein Chatbot einmal gemacht hat, war mich zur bewusst verborgenen Hotline weiterzuleiten.
Früher konnte man einfach die angegebene Nummer unter "Kontakt" wöhlen... Heute braucht es Künstliche Intelligenz dafür.
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