Bundesarbeitsgericht

Arbeitszeiterfassung ist Pflicht: Was steht in der „Stechuhr“-Entscheidung?

Veröffentlicht: 08.12.2022 | Geschrieben von: Melvin Louis Dreyer | Letzte Aktualisierung: 08.12.2022
Hand beschriftet Kalender

Vor wenigen Wochen kam es zum arbeitsrechtlichen Paukenschlag: In einer Sache, die eigentlich vorrangig das Mitbestimmungsrecht eines Betriebsrates betraf, teilte das Bundesarbeitsgericht seine Auffassung zur Pflicht der Arbeitszeiterfassung (Beschluss v. 13.09.2022, Az. 1 ABR 22/21). Während der EuGH zuvor entschieden hatte, dass das EU-Recht entsprechende Regelungen durch die Mitgliedstaaten erfordert und der deutsche Gesetzgeber sich eher gemächlich dazu aufschwang, solche Regeln zu schaffen, kam das Gericht den Entwicklungen zuvor und verlautbarte, dass die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung auch schon nach den vorhandenen gesetzlichen Bestimmungen von Arbeitgebern zu erfüllen ist. Sofort quasi. Viel mehr Informationen allerdings waren da nicht, bis vor kurzem war der umfangreiche Volltext der Entscheidung noch nicht veröffentlicht. Jetzt sind sie da. Was steht drin, was könnten sie bedeuten und wie geht es weiter? 

Zeiterfassung: Was jetzt, ab sofort?!

Die Pressemitteilung zur Entscheidung war zunächst alles, worauf man sich hinsichtlich der Auffassung des Bundesarbeitsgerichts stützen konnte. Und viel war das nicht: „Der Arbeitgeber ist nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG verpflichtet, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann“ stand dort, und „Bei unionsrechtskonformer Auslegung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG* ist der Arbeitgeber gesetzlich verpflichtet, die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer zu erfassen“. 

Arbeitgeber sind also ab sofort zur Arbeitszeiterfassung verpflichtet, weil die bestehenden Regeln es vorgeben, das kann schonmal festgehalten werden. Hat das Gericht eine Übergangsfrist eingeräumt? Nein. Und wenn man es genau nimmt, so gilt die Pflicht wohl auch nicht erst „seit der Entscheidung“ – das BAG hat ja, wie gesagt, anhand bestehender Regeln entschieden. Demzufolge bestand die Pflicht auch schon zuvor und wurde theoretisch nicht neu konstituiert. Der Beschluss zeigt also vielmehr, dass man bestehende Vorgaben bisher nicht richtig umgesetzt hat – vergleichbar ist die Situation vielleicht mit der damaligen Entscheidung des BGH zur Einwilligungspflicht bei Cookies. Auch wenn wir damit rechnen dürfen, dass es demnächst gesetzgeberische Vorhaben zum Thema geben wird, sind diese, genau genommen, nicht erforderlich, um die Pflicht erst entstehen zu lassen. 

Was sind die Anforderungen an die Zeiterfassung? 

Nun, da die Entscheidungsgründe des BAG-Beschlusses vorliegen, gibt es auch ein bisschen mehr Informationen über das, was die Höchstrichter für gegeben bzw. erforderlich halten. 

Punkt 1: Einführung eines Systems zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit mit Beginn, Ende und Dauer einschließlich Überstunden

Die Pflicht der Arbeitgeber, ein System einzuführen, mit dem sämtliche Arbeitszeiten erfasst werden, folgt aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG), sagt das BAG. Diese Regelung sieht vor, dass Arbeitgeber zur Planung und Durchführung von Arbeitsschutzmaßnahmen nach Abs. 1 unter Berücksichtigung der Art der Tätigkeit und der Zahl der Beschäftigten für eine „geeignete Organisation“ zu sorgen und die „erforderlichen Mittel“ bereitzustellen hat.

Das umfasst laut Beschluss (und bei der nötigen, unionsrechtskonformen Auslegung) auch die grundsätzliche Verpflichtung der Arbeitgeber, ein System zur Erfassung der von ihren Arbeitnehmern geleisteten täglichen Arbeitszeit einzuführen, das Beginn und Ende und damit die Dauer der Arbeitszeit einschließlich der Überstunden umfasst. Demnach braucht es in der entsprechenden Erfassung bzw. Dokumentation Uhrzeiten – ein bloßer Vermerk wie „8 Stunden gearbeitet und 30 Minuten Pause gemacht“ dürfte nicht ausreichen. 

Punkt 2: Objektiv, verlässlich und zugänglich, aber nicht zwingend elektronisch

Wie muss dieses System aussehen? Hier gibt es wohl noch etwas Spielraum. Im Beschluss heißt es mittelbar, dass nach den Vorgaben des EuGH zum Schutz der Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer ein „objektives, verlässliches und zugängliches“ System einzuführen sei, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann. „Dabei besteht - solange vom Gesetzgeber (noch) keine konkretisierenden Regelungen getroffen wurden - ein Spielraum, in dessen Rahmen ua. die ‚Form‘ dieses Systems festzulegen ist“, heißt es weiter mit Verweis auf die EuGH-Rechtsprechung.

Bei der Auswahl der Form seien vor allem die Besonderheiten der jeweils betroffenen Tätigkeitsbereiche der Arbeitnehmer und die Eigenheiten des Unternehmens, insbesondere seine Größe, zu berücksichtigen. Man darf wohl mutmaßen, dass der Gesetzgeber hier künftig noch konkretere Anforderungen benennen wird. Ebenfalls mit Verweis auf das EuGH-Urteil heißt es zudem, dass es sich nicht zwingend um ein elektronisches System handeln muss. Je nach Tätigkeit und Unternehmen könnten beispielsweise auch Aufzeichnungen in Papierform ausreichen. „Es kommt darauf an“, dürfte damit erstmal die Devise sein. 

Punkt 3: Verwendung des Systems: Arbeitgeber darf delegieren

Das führt ein bisschen zu diesem Punkt: Das System muss nicht nur eingeführt, sondern auch verwendet werden. Das Einrichten und Vorhalten des Systems obliege zwar dem Arbeitgeber – dieser muss also beispielsweise das Programm bereitstellen oder eine papierne Vorlage. Laut dem BAG-Beschluss sei es nach den EU-rechtlichen Vorgaben aber nicht ausgeschlossen, dass die Aufzeichnung selbst, also das Notieren der betreffenden Zeiten als solche, an die Arbeitnehmer delegiert werden darf. Daraus ließe sich wohl einerseits schließen, dass die Personalabteilung bzw. der Arbeitgeber selbst nicht für jede beschäftigte Person stets die Zeiten notieren muss, sondern diesen Teil der Pflicht abwälzen darf. Es dürfte andererseits aber anzunehmen sei, dass er die Erfüllung der Aufgabe durch die beschäftigte Person schon kontrollieren muss und sich nach dem Weiterdelegieren nicht einfach zurücklehnen kann. 

„Bei der Auswahl und der näheren Ausgestaltung des jeweiligen Arbeitszeiterfassungssystems ist jedoch zu beachten, dass die Verbesserung von Sicherheit und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer bei der Arbeit Zielsetzungen darstellen, die keinen rein wirtschaftlichen Überlegungen untergeordnet werden dürfen“, heißt es im Beschluss noch. Für die Art und Weise der Erfassung von Beginn und Ende der Arbeitszeit besteht insofern wohl aber letztlich ein gewisser Gestaltungsspielraum, je nach konkretem Einzelfall. 

Punkt 4: Sind alle beschäftigten Personen betroffen?

Schwierig. Wie es im Beschluss heißt, müsse sich die Arbeitszeiterfassung nicht auf Arbeitnehmer erstrecken, für die ein Mitgliedstaat Ausnahmen vorgesehen hat, weil die Dauer ihrer Arbeitszeit wegen besonderer Merkmale der ausgeübten Tätigkeit nicht bemessen und/oder vorherbestimmt ist oder von den Arbeitnehmern selbst bestimmt werden kann. Hier geht es etwa um leitende Angestellte. 

Im Hinblick auf die Lage in Deutschland zeichnet sich ab, dass es noch keine klare Antwort auf die Frage gibt, auf jeden Fall aber nicht hier im Artikel. 

Mitbestimmungsrecht: Was ist mit dem Senf des Betriebsrates?

Darf er dazugegeben werden? Ja, wenn es um das „Wie“ der Arbeitzeiterfassung geht, also die Ausgestaltung. Dort hat er ein Mitbestimmungsrecht. Jedenfalls nach dem jetzigen Stand – je nach Eingriff des Gesetzgebers können sich die Gegebenheiten ändern. Beim „Ob“ sieht es anders aus. Der Betriebsrat im vorliegenden Fall, stellt das BAG fest, kann die Einführung eines Zeiterfassungssystems mithilfe einer Einigungsstelle nicht erzwingen, das Mitbestimmungsrecht nach § 87 BetrVG besteht insofern nicht – weil es ja bereits die gesetzliche Handlungspflicht gibt. 

Ciao Ciao Vertrauensarbeitszeit?

Aus, Ende, vorbei – Die Vertrauensarbeitszeit, oder genauer eben ihr Ende, war spätestens mit dem Bekanntwerden der Entscheidung des BAG ein (emotionales) Thema. Hier lässt sich wohl festhalten, dass das so pauschal nicht zutreffend ist. Ohne Frage führt kein Weg an der Arbeitszeiterfassung mehr vorbei, ein Wandel in dieser Hinsicht lässt sich insofern nicht von der Hand schlagen. Ob und inwiefern man damit das Konstrukt „Vertrauensarbeitszeit“ beerdigt und den Untergang moderner Arbeitskultur am Horizont sieht, hängt allerdings auch davon ab, wie sehr man es auf diesen Aspekt beschränkt oder ob man darunter mehr versteht, als nur die Nichtdokumentation von Arbeitszeiten. Einige Praxisfragen der Arbeitszeit könnten aber vermutlich an Bedeutung gewinnen. 

Drohen Bußgelder?

Dazu steht nichts im Beschluss des Bundesarbeitsgerichts, aber darum ging es ja auch nicht. Händlerbund-Rechtsanwältin Elisa Rudolph hat der Redaktion hierzu mitgeteilt: „Nach den aktuellen Gegebenheiten drohen für Arbeitgeber derzeit bei Verstoß gegen die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung (noch) keine Bußgelder, da für die zugrunde liegende Norm keine solche Folge vorgesehen ist. Anders ist die Lage ggf., wenn die zuständige Behörde eine konkrete Anordnung erlassen hat. Wie sich die Rechtslage hier für Arbeitgeber weiter entwickeln wird, muss anhand des Vorschlages des Gesetzgebers abgewartet werden.“

Wie gehts jetzt weiter? 

Dass es aus praktischer Sicht noch weitere gesetzliche Rahmenbedingungen braucht, das liegt wohl auf der Hand. In der Politik ist das Thema Arbeitszeiterfassung schon länger auf der Agenda, auch ist sie Bestandteil des Koalitionsvertrags. Man darf wohl davon ausgehen, dass die Beschlussgründe jetzt nach ihrer Veröffentlichung auch im Bundesarbeitsministerium geprüft werden und es – hoffentlich – zeitnah zu vorzeigbaren Ergebnissen kommt. Zwar wird die Pflicht zur Zeiterfassung grundsätzlich vom EU-Recht vorgegeben. Der deutsche Gesetzgeber hat hierbei allerdings Umsetzungsspielräume, die er nutzen kann – etwa im Hinblick auf betroffene Gruppen von Beschäftigten, besondere Regeln für kleine und mittelständische Unternehmern oder auch die Art und Weise der Zeiterfassung. Neues könnte es im Frühjahr 2023 geben. 

Der Volltext der Entscheidung des BAG ist hier zu finden. 

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