Amazon bei Wish bestellt

Temu: Marketing-Monster mit Billig-Strategie

Veröffentlicht: 03.08.2023 | Geschrieben von: Christoph Pech | Letzte Aktualisierung: 06.12.2023
Temu

Vor einigen Jahren war Wish der neue Stern am E-Commerce-Himmel. Mit Kampfpreisen gelang der Shopping-App ein beispielloser Aufstieg und mittlerweile ist der Anbieter in der Branche etabliert, auch wenn er damit leben muss, dass er sein Billig-Image („Wenn man dies und das bei Wish bestellt“) wohl nicht mehr loswerden wird. Seit einigen Monaten dürften vor allem Branchen-Insider ein Deja Vu erleben, denn es gibt offenbar ein neues Wish und das heißt Temu. Wer von der neuen Shopping-App noch nichts gehört hat, nutzt das Smartphone wohl tatsächlich ausschließlich zum Telefonieren.

Seit Wochen belegt Temu sowohl im Play Store als auch im App Store von Apple Platz 1 der Charts. Schon jetzt setzt der Marktplatz Milliarden um, dabei gibt es ihn erst seit einem Jahr. Vor allem kann man der App kaum entkommen, denn derart aggressives Marketing hat man selten gesehen. Was ist Temu? Wer steckt dahinter? Wie vertrauenswürdig ist der Marktplatz? Wir geben einen Überblick.

Was ist Temu?

Temu wurde 2022 in Boston gegründet und gehört zur PDD Holdings Inc. Bis Februar 2023 firmierte der Konzern noch unter dem wohl etwas bekannteren Pinduoduo. Temu wurde gegründet, um günstige chinesische Produkte an zunächst amerikanische Verbraucher:innen zu bringen. Seit dem Frühjahr ist die App auch in Europa (bislang Deutschland, Italien, Frankreich, Spanien, Großbritannien, Niederlande) verfügbar. Temu fungiert als reiner Marktplatz und verkauft selbst keine Produkte, ist also konzeptionell eher mit Ebay als mit Amazon vergleichbar. Viele Gemeinsamkeiten gibt es zwischen dem etablierten Marktplatz und der neuen Shopping-App aber nicht wirklich.

Händler:innen, die über Temu Reichweite generieren wollen, müssen eine Provision von 25 bis 30 Prozent zahlen. Genaue Zahlen findet man nur schwer, denn der Marktplatz bzw. die Mutter PDD Holding hält sich sehr bedeckt. Anfragen von Onlinehändler-News blieben bislang unbeantwortet, belastbare Zahlen zu Produkten, Anbietern etc. lassen sich kaum in Erfahrung bringen. Zumindest noch. Mit steigender Marktdurchdringung kann sich dies in Zukunft auch noch ändern. Erfolgsmeldungen veröffentlicht PDD Holding hingegen gern: Temu ist dem Quartalsbericht des Konzerns zufolge schon jetzt ein Milliardenunternehmen.

Häufig wird Temu mit Wish verglichen, aber auch an dieser Stelle muss man einschränken, denn Temu ist nicht nur Shopping-App, sondern vor allem eine Social-Commerce-Plattform. „Temu setzt bewusst auf eine Mischung aus Social-Media-initiierter Bedarfsweckung (z.B. massiv über Tiktok), spielerischem Einkaufen (der sog. ‚Gamification‘) und einem intelligent lancierten Schneeball-Prinzip (über sog. ‚Affiliate-Codes‘). Temu setzt dabei auf die Befriedigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse und Triebe: Kommunikation, Neugier, Gier und Belohnung sind die heimlichen Eckpfeiler des Geschäftsmodells und sollen für schnelles Wachstum sorgen“, erklärt Prof. Christoph Tripp von der Technischen Hochschule Nürnberg.

„Shoppe wie Milliardäre“

Das Motto zum US-Start lautete „Shop like a billionaire“, in den deutschen App-Stores ist es mit der etwas ungelenk eingedeutschten Variante „Shoppe wie Milliardäre“ versehen. Die Kampfpreise sollen die überwiegend noch junge Zielgruppe zum maßlosen Einkaufen ermutigen. Salopp gesagt: Kaufe alles, was du willst, weil du es dir hier leisten kannst - wie ein Milliardär. Dieses Gefühl soll schon mit den teils aggressiven Marketing-Maßnahmen vermittelt werden. Temu ist gerade überall. Egal, ob man durch TikTok, Instagram oder Facebook scrollt, ob man bei Google nach Inhalten sucht oder in Smartphones-Games auf die nächste Runde nach der unvermeidlichen Werbeeinblendung wartet. Temu wirbt auf allen erdenklichen Kanälen, um die Zielgruppen zu erreichen.

Und geht bei der Werbung vor allem auf die günstigen Preise. Wer die App oder die Webseite dann einmal aufsucht, kann sich vor Schnäppchen kaum retten. Blitzangebote, Rabatte, Abverkäufe - Temu wirkt beim ersten Besuch wie die zu bunt geratene Prospektesammlung, die allwöchentlich im Briefkasten liegt. Und die Schnäppchen haben es vermeintlich in sich. Schon in der Kategorieübersicht ist der günstigste Preis pro Kategorie eingeblendet. Schuhe ab 15 Cent, Ladekabel für einen Euro, ein Kühlschrank für 40 Euro. Bei Temu sollen die Kund:innen alles für Spottpreise finden. Temu liegt teilweise 80 bis 90 Prozent unter den Preisen vergleichbarer Mitbewerber.

Markenware ist Mangelware

Was sofort auffällt: Bekannte Marken lassen sich auf dem Marktplatz kaum finden. Wer „Adidas Schuhe“ sucht, findet viele günstige Schuhe, die aussehen wie vom Vorbild, das Original ist aber nicht dabei. Kein Wunder, dass es bereits erste Klagen wegen Produktpiraterie gibt. Auch kein Wunder ist es, dass bei Temu zuallererst nach der Seriosität und Legalität gefragt wird. Um das klarzustellen: Temu ist kein Fake Shop! Die mangelnde Qualität ist durch die Preisgestaltung ins Geschäftsmodell eingepreist.

Und sie wird ganz offensichtlich von vielen Kund:innen in Kauf genommen. „Das ist wohl Teil des Deals, den Kunden bewusst eingehen. Ich bekomme quasi alles zu einem günstigen Preis, es dauert aber lange (7-9 Tage) und das Qualitätsrisiko ist hoch“, so Christoph Tripp. Die Lieferzeiten sind hoch, weil die Ware stets aus China kommt. Und auch an dieser Stelle ist bei einem Temu-Versprechen Vorsicht geboten: In der Regel bietet der Marktplatz kostenlosen Versand. Allerdings muss immer damit gerechnet werden, dass Zoll- oder andere Gebühren anfallen.

Generell gibt es beim Thema Logistik Fragezeichen, wie Tripp ausführt: „Über die logistische Abwicklung von TEMU ist bisher wenig bekannt. Es wird allerdings davon ausgegangen, dass TEMU die Waren chinesischer Lieferanten in zahlreichen Fulfillment-Centern in China vorhält, von dort aus über asiatische Logistikdienstleister per Luftfracht in die Zielmärkte versendet und in die unterschiedlichen Netzwerke der Brief- und Paketdienste zur Endkundenzustellung einspeist (z.B. über US Post in den USA oder DHL in Deutschland). Die Lieferzeiten betragen zwischen 7 und 10 Tagen, so dass ein Transport über Container-Seefrachtverkehre ausgeschlossen ist. Es wird darüber spekuliert, ob Temu auch die sehr entgegenkommenden Konditionen und Vereinbarungen des Weltpostvereins zugreift.“ Nach Tripps Informationen nehmen die Sendungsmengen momentan deutlich zu.

Nachhaltigkeit und Menschenrechte?

Kann es nachhaltig sein, Billig- und Kleinstartikel über die halbe Welt zu schicken und die Kundschaft mit Rabatten dazu zu ermutigen, immer noch mehr zu kaufen und Lieferungen zu veranlassen? Wohl nicht. Temu spricht den Punkt Nachhaltigkeit aber tatsächlich sogar in seinen Richtlinien an. Dort heißt es: „Soziale Verantwortung ist einer der Grundwerte von Temu. Einer der Wege, wie wir unser Engagement zeigen, ist durch ökologische Nachhaltigkeit. Zum Beispiel gleichen wir für jede Bestellung auf Temu die Kohlenstoffemissionen aus, um unseren CO2-Fußabdruck zu kompensieren und unseren Beitrag dazu zu leisten, den Planeten zu schützen.“

Ob das mehr sind als Worthülsen, lässt sich erneut kaum verifizieren. Christoph Tripp hat eine eindeutige Ansicht bezüglich der Nachhaltigkeit von Temu: „Soziale und ökologische Nachhaltigkeit stehen beim Geschäftsmodell hinten an und sind kritisch zu sehen. Temu hält uns Europäern damit quasi den Spiegel unserer aktuell geführten Diskussionen um mehr Werteorientierung in der Wirtschaft vor und adressiert den Teil der Bevölkerung, denen Convenience wichtiger ist als Nachhaltigkeit.“

Ähnlich fragwürdig ist Temus Stand zu Menschenrechten. Billige Ware entsteht selten unter besonders guten Arbeitsbedingungen. Als Marktplatz hat Temu zunächst einmal keinen direkten Einfluss auf die Arbeitsbedingungen der Anbieter und Lieferanten. Temu verlange von Herstellern, vorgegebene Standards einzuhalten. Das behauptet das Unternehmen jedenfalls, wie Gamestar in einem Beitrag zum Thema darlegt. Ob und wie Temu aber tatsächlich überprüft, wie fair Arbeiter:innen behandelt werden, ist unklar. Zudem stehen Vorwürfe im Raum, dass einige Produkte, die über Temu verkauft wurden und werden, im Zuge von Zwangsarbeit entstanden sind, wie die LA Times berichtete.

Streitbares Vorbild

An Temu wird derzeit viel kritisiert. Selbst der Umgang mit Daten ist fragwürdig. Die App verlangt Zugriff auf Fotos, Videos, das Adressbuch und sogar WLAN-Daten. Man darf hinterfragen, warum ein Marktplatz derlei Zugriff benötigt. Aber gerade von der Kundschaft wird Temu eben nicht nur zerrissen, sondern durchaus auch gelobt, vorausgesetzt man weiß, worauf man sich einlässt. Bei Trustpilot hat die Plattform aktuell (Stand: August 2023) eine durchschnittliche Nutzerbewertung von 3,5 (von 5) Sternen. Knapp die Hälfte der Nutzer:innen bewertet Temu mit fünf Sternen und etwa ein Drittel nur mit einem Stern.

An Temu scheiden sich also die Geister. Das Konzept des Emporkömmlings wird aber mit Interesse gesehen. Prof. Christoph Tripp von der TH Nürnberg sagt dazu: „In Europa und den USA gibt es keine vergleichbare Social Commerce Plattform, die die Klaviatur aus Kundenansprache, Awareness und Artikelspektrum so gut vereint und bespielt wie TEMU. Das Unternehmen könnte also ein Benchmark für die zukünftige Entwicklung des Onlinehandels in Richtung eines ‚Discovery Based Online Shopping‘ sein, in dem auch das Metaverse als integrierter Bestandteil seinen Platz finden könnte.“

Was Temu macht, ist, zumindest derzeit, in vielerlei Hinsicht noch fragwürdig und mit Vorsicht zu genießen. Aber wie das Unternehmen Online-Handel denkt, könnte ein Fingerzeig für die Zukunft sein. 

Über den Autor

Christoph Pech
Christoph Pech Experte für: Digital Tech

Christoph ist seit 2016 Teil des OHN-Teams. In einem früheren Leben hat er Technik getestet und hat sich deswegen nicht zweimal bitten lassen, als es um die Verantwortung der Digital-Tech-Sparte ging. Digitale Politik, Augmented Reality und smarte KIs sind seine Themen, ganz besonders, wenn Amazon, Ebay, Otto und Co. diese auch noch zu E-Commerce-Themen machen. Darüber hinaus kümmert sich Christoph um den Youtube-Kanal.

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