Health-Tech-StartUps: Wie Jungunternehmen die Medizin digitalisieren

Veröffentlicht: 09.05.2018 | Geschrieben von: Michael Pohlgeers | Letzte Aktualisierung: 09.05.2018

Die Digitalisierung macht vor keinem Aspekt des modernen Lebens halt. Auch im medizinischen Bereich entstehen immer mehr StartUps, die digitale Angebote zu Gesundheitsfragen bieten. Doch damit bewegen sie sich nicht gerade im einfachsten Markt.

Arzt am Tablet mit digitalen Overlays
© everything possible – Shutterstock.com

Fitness-Tracker, Pulsmesser in der Smartwatch, Apps für Migräne-Patienten oder digitale Therapie-Angebote: Auch im medizinischen Bereich findet der digitale Wandel statt. Die Digitalisierung bietet dabei – wie in anderen Branchen auch – zahlreichen Jungunternehmern große Chancen. Doch gerade in diesem sensiblen Bereich stehen die innovativen Geschäftsmodelle vor einigen Herausforderungen. So spielt das Thema Kundenvertrauen eine große Rolle. „Häufig wird ‚online‘ noch immer mit Begriffen wie ‚unseriös‘ oder ‚nicht vertrauenswürdig‘ assoziiert – der Themenkomplex Gesundheit ist generell sehr sensibel und Menschen zurecht vorsichtig“, erklärt Nora Blum, Psychologin und Gründerin von Selfapy. Das Unternehmen bietet eine Soforthilfe bei psychischen Belastungen im Netz.

Um die Menschen von dem digitalen Angebot zu überzeugen, sei es wichtig, „kontinuierlich für Aufklärung und Transparenz zu sorgen“, so Blum weiter. „Schließlich erfordert die Nutzung digitaler Angebote auch immer eine gewisse Medienkompetenz bzw. technische Sachkenntnisse.“ Auch bei der StartUp-Plattform Heartbeat Labs, die in Health-Tech-Unternehmen investiert und diese gründet, ist man sich der Hürden im medizinischen Bereich bewusst – vor allem hinsichtlich der regulatorischen Hürden. „Sobald eine App oder ein innovatives Medizingerät Krankheiten, Verletzungen oder Behinderungen erkennt, verhütet, überwacht, behandelt bzw. lindert/kompensiert, kann es sich um ein Medizinprodukt handeln, das nach den Vorgaben der europäischen Regularien regelmäßig von sog. ‚Benannten Stellen‘ (z.B. dem TÜV) zertifiziert werden muss“, erklärt Philip Hinz, Head of Communications. Das könne für StartUps aber lange Wartezeiten bedeuten.

Die digitale Geschwindigkeit wird zur Herausforderung

Dass derart lange Wartezeiten für die jungen Unternehmen einen besonderen Konflikt hervorbringen, weiß auch Stefan Greiner, Gründer von M-Sense: „Gerade für StartUps aus dem medizinischen Bereich, die ein digitales Produkt anbieten, konkurrieren häufig genau diese beiden Bereiche“, so Greiner. Der medizinische Bereich sei traditionell für lange Innovationszyklen bekannt, die Prozesse im digitalen Zeitalter aber deutlich schneller. „Die daraus resultierende Überbrückung der Finanzierungslücken auf der StartUp-Seite und die unklare und oft eben auch regulatorische Sachlage macht es nicht immer einfacher für StartUps aus dem Health-Bereich.“ M-Sense selbst bietet eine App für Migräne-Patienten an, mit der die Kopfschmerzen und Migräne bekämpft werden sollen.

Philip Hinz von Heartbeat Labs zeigt zudem ein weiteres Problem mit der Zertifizierung auf: Zum einen würden die „aufwendigen Dokumentationspflichten und die gegebenenfalls notwendigen Prüfungen“ StartUps gegenüber größeren Unternehmen eher benachteiligen, da sie zeit- und kostenintensiv sind. Zum anderen berücksichtige die aktuelle Diskussion um die Zertifizierungsstellen nicht, dass Apps stetig weiterentwickelt werden. Und jedes Update erfordere Hinz zufolge eigentlich eine neue Zertifizierung. „Wir brauchen für diese neue Form der Medizinprodukte vielleicht also eine vollkommen neue Form der Zertifizierung“, so Hinz.

Theranos – Das schwarze Schaf der Branche?

Anfang des Jahres 2018 machte das Bluttest-StartUp Theranos mit einem Skandal auf sich aufmerksam. Elizabeth Holmes, Gründerin des Jungunternehmens, soll Investoren wissentlich mit falschen Versprechungen getäuscht haben, um Gelder für Theranos einzusammeln. Mehr als 700 Millionen US-Dollar sollen Holmes und ihr früherer Top-Manager Ramesh Balwani durch jahrelanges betrügerisches Handeln von Investoren eingenommen haben, heißt es bei Heise Online.

Theranos hatte versprochen, Bluttests zu revolutionieren. Es seien nur wenige Tropfen Blut erforderlich, um die Tests mit der Technologie des StartUps durchzuführen. Doch frühere Mitarbeiter hatten sich in den Medien zu Wort gemeldet. Die Technologie von Theranos funktioniere demnach nicht. Schwerer noch: Das Unternehmen soll für Blutproben oft auf konventionelle Geräte anderer Hersteller vertraut haben. Die Ergebnisse der Bluttests seien zudem derart unzuverlässig gewesen, dass Theranos die Testergebnisse nachträglich reklamierte. Der Ruf des Unternehmens war dahin, nahezu alle Mitarbeiter mussten entlassen werden. Elizabeth Holmes konnte ein Gerichtsverfahren durch eine Einigung mit der Börsenaufsicht SEC vermeiden. Balwani schlug eine solche Einigung aber aus – gegen ihn soll ein Gerichtsverfahren eröffnet werden. 

Digitale Gesundheitshelfer haben noch viel Potenzial

Der Fall Theranos stellt für viele StartUps im Medizin-Bereich zweifellos ein Mahnmal dar. Ist der Ruf erst ruiniert, können sich Jungunternehmen in diesem Bereich selten erholen und einfach weitermachen. Schließlich arbeiten die Unternehmen mit sensiblen Daten. Selfapy, M-Sense und Heartbeat Labs hoffen in jedem Fall darauf, dass sich die Bedingungen für StartUps im medizinischen Bereich in Zukunft verbessern. „Wir sind zuversichtlich, dass sich zunehmend Standards und einheitliche Verhaltensregeln für Anbieter etablieren, die für eine erhöhte Akzeptanz bei den Anwendern sorgen und damit neue Geschäftsideen zutage fördern“, erklärt etwa Nora Blum von Selfapy. Sie meint, dass die Möglichkeiten digitaler Gesundheitshelfer „lange noch nicht ausgeschöpft“ seien.

Bei M-Sense geht man davon aus, dass sich der Markt für digitale Medizin-Produkte in Zukunft „ein Stück weit konsolidieren“ werde. „So werden sich eher Plattformanbieter herausbilden und beweisen können, die eine umfassende Betreuung von Patienten gewährleisten können und dies in einem One-Stop-Format tun“, meint Stefan Greiner. Damit müssten Patienten seiner Ansicht nach nicht mehr viele Wege in Kauf nehmen, sondern könnten alles an einem Ort erledigen. M-Sense habe diesen „One-Stop“-Ansatz bereits in seiner App umgesetzt und biete den Migräne-Patienten damit eine Anlaufstelle.

Auch die Ärzte werden digitaler

Philipp Hinz von Heartbeat Labs will eine Bereitschaft zum Wandel erkannt haben: „Wir sehen das an der sich ändernden Regulatorik (Stichwort Telemedizin), an der wachsenden Bereitschaft von Krankenkassen (unter denen es inzwischen einen Wettbewerb gibt, wer in Sachen Digitalisierung gut für die Zukunft gerüstet ist) und von Wagniskapitalgebern“, so Hinz. „Wir sind optimistisch, dass es medizinische Apps oder neuartige Services mit künstlicher Intelligenz in Zukunft einfacher haben, zugelassen zu werden und sich zu refinanzieren.“ Gleichzeitig verweist er aber auch darauf, dass Chat-Bots oder Video-Sprechstunden den Besuch beim Arzt nicht ersetzen können. Die neuen Technologien werden den Ärzten „stattdessen helfen, administrative und standardisierte Arbeiten schneller und intelligenter zu erledigen (z. B. standardisierte Fragen zu Symptomen), damit sie mehr Zeit dafür haben, auf individuelle Fragen des Patienten einzugehen“.

Dass die Menschen ein immer größeres Interesse an digitalen Medizin-Angeboten haben, ist klar. Dass man inzwischen über das „Ich google meine Symptome und erhalte eine (häufig falsche) Diagnose“ hinaus ist, sollte einen in jedem Fall freuen. Und auch bei den Ärzten tut sich was: Wie die Internet World berichtet, sollen die Bedingungen für Ärzte zur Online-Beratung auf dem 121. Ärztetag etwas gelockert werden. Denn bisher dürfen Ärzte nicht einfach nur online oder am Telefon Patienten behandeln, wenn sie die Patienten nicht zuvor persönlich getroffen haben. Solche reinen Fernbehandlungen sollen künftig aber „im Einzelfall“ erlaubt werden, wenn sie „ärztlich vertretbar“ sind und die Sorgfalt gewahrt bleibt. Damit geht der Ärztetag zwar nur einen kleinen Schritt auf die digitale Welt zu, aber trotzdem zeigt dieser, wie sich der Medizin-Bereich wandelt – und dass sich die Digitalisierung nicht nur durch StartUps abspielt.

Über den Autor

Michael Pohlgeers
Michael Pohlgeers Experte für: Marktplätze

Micha gehört zu den „alten Hasen“ in der Redaktion und ist seit 2013 Teil der E-Commerce-Welt. Als stellvertretender Chefredakteur hat er die Themenauswahl mit auf dem Tisch, schreibt aber auch selbst mit Vorliebe zu zahlreichen neuen Entwicklungen in der Branche. Zudem gehört er zu den Stammgästen in unseren Multimedia-Formaten, dem OHN Podcast und unseren YouTube-Videos.

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