Retro im (Dauer-)Trend

Warum Schallplatten und Videospielklassiker wieder Millionen-Seller sind

Veröffentlicht: 01.02.2023 | Geschrieben von: Christoph Pech | Letzte Aktualisierung: 01.02.2023
Plattenregal

Wer in diesen Zeiten ins Kino geht oder Netflix anwirft und die Volljährigkeit schon hinter sich hat, der kann sich ständiger Déjà-vus nicht erwehren. „Star Wars“, „Terminator“ oder „Jurassic World“ versuchen in guter Regelmäßigkeit, alte und neue Fans gleichermaßen zu bespaßen.  Gerade Disney fährt mit seinen Star-Wars-Serien einen ausgedehnten Nostalgietrip und das überaus erfolgreich. Einmal davon abgesehen, ob man das nun besonders kreativ findet oder nicht, die Zweit-, Dritt- und Viertverwertung bekannter Stoffe erfüllt ihren Zweck: Vor der Corona-Pandemie war das Kino erfolgreich wie nie. Allein im Jahr 2018 hatten die Kinos weltweit schätzungsweise 41,1 Milliarden US-Dollar umgesetzt – so viel wie nie zuvor. Die Pandemie hat diese Entwicklung zwar unterbrochen, aber das wird sich in den kommenden Jahren wieder ändern.

Das Stichwort heißt Nostalgie. „Wir haben eine Tendenz dazu, die negativen Erlebnisse der Vergangenheit auszublenden. Man denkt an die schöne Kindheit zurück und erinnert sich nur an die positiven Gesichtspunkte“, erklärt Prof. Dr. Kai-Markus Müller, seines Zeichens Neurowissenschaftler. Das nutzt auch und vor allem der Handel für sich aus, denn: „Das lässt sich natürlich auch auf Produkte übertragen. Produkte aus der Vergangenheit werden geistig positiv assoziiert.“ Das Geschäft mit der Nostalgie, mit Retro-Konsolen, mit Vintage-Mode, mit Neuinterpretationen bekannter Produkte, ist so ertragreich wie nie.

Und es ist so gefragt wie nie: Wer bei Ebay den Begriff „retro“ ungefiltert in die Suche eingibt, erhält über 950.000 Treffer, bei „vintage“ sind es sogar über 2,4 Millionen. „Vintage-Artikel sind seit jeher fester Bestandteil des Angebots bei Ebay. 3,3 Millionen Ebay-Verkäufer, darunter überwiegend Privatverkäufer, sorgen für einen riesigen Vintage-Markt. Das Angebot reicht von Kleidung & Accessoires über Musikinstrumente bis hin zu Möbeln & Dekoration“, erklärt Ebay auf Nachfrage. Seit 2017 steigen die Suchanfragen nach Retro-Produkten stark an. „Vintage-Kleidung im Allgemeinen, aber auch bestimmte Artikel wie die Gürteltasche oder Plateau-Schuhe bzw. -Sneaker stehen weit oben bei den Suchanfragen der Ebay-Nutzer.“

Inbegriff des Revivals: Die Schallplatte

Stellvertretend für einen allgemeinen Retro-Trend ist das Revival der Vinylplatte. Bis ins Jahr 2006 nahm der Absatz von Schallplatten kontinuierlich ab. 2006 wurden der GfK zufolge gerade noch etwa 300.000 Schallplatten verkauft. Das entsprach einem Umsatz von sechs Millionen Euro. Schon das ist für sich genommen nicht wenig, im Vergleich sowohl mit der Entwicklung in den Folgejahren als auch mit anderen Medien allerdings verschwindend gering. Erst die Kassette und dann die CD machten die Schallplatte eigentlich obsolet. Anders als Kassette und CD aber geht die Platte heutzutage fast als Kassenschlager durch. Nach 2006 wuchs der Absatz erst langsam, dann merklich an. Im Jahr 2021 wurden dem Bundesverband Musikindustrie zufolge in Deutschland 4,5 Millionen Schallplatten abgesetzt. 2008 wurde der Record Store Day ins Leben gerufen, der spätestens seit 2013 ein weltweites Phänomen ist. Künstler legen eigens LP-Editionen für diesen Tag auf, der die Schallplatte in den Mittelpunkt rückt.

Aber warum hat es dieser komplexe, aufwändige Tonträger in Zeiten, in denen Musik überall dauerverfügbar ist, geschafft, wieder ein relevantes Medium zu werden? Zwar ist die Vinylscheibe samt Plattenspieler in der Regel nach wie vor ein Liebhaberstück, Verfechter der Scheibe schwören aber auf ihren klaren, unkomprimierten Klang. Und sie sind bereit, eine Menge Geld für ihre Leidenschaft in die Hand zu nehmen. Sven Albrecht vertreibt über albis-retro-handel Abtastnadeln und Tonabnehmer-Systeme für Plattenspieler. Er hat sich quasi auf die Nische in der Nische spezialisiert. Albrecht hat heute zwischen 600 und 1.000 Artikel im Sortiment und verkauft Tonabnehmer-Systeme durchaus schon mal für 150 Euro und mehr.

„Die hochwertigen Nadeln und Systeme werden meist von Kunden zwischen 25 und 65 Jahren gekauft, um den Plattenspieler aufzurüsten und noch mehr aus dem Spieler rauszuholen“, sagt Albrecht. Es sei „einfach ein schönes Gefühl, die Musik als Tonträger in den Händen zu halten und den super Sound (mit dem richtigen Equipment) zu hören. Wenn die Nadel des Systems auf das Vinyl trifft und der Sound einem um die Ohren bläst – das ist einfach ein Erlebnis.“ Interessanterweise sind es aber nicht nur die älteren Generationen, die den Klang der Schallplatte auf einem guten Plattenspieler schätzen. Das ist auch Albrecht aufgefallen: „Ich merke auch bei mir im Bekanntenkreis, dass immer mehr jüngere Leute (zwischen 18 und 30 Jahren) mich nach Empfehlungen für Plattenspieler-Typen fragen.“ Stellt sich die Frage: Warum interessieren sich junge Menschen, die weder die 90er-Jahre, noch die Hochzeit der Schallplatte erlebt haben, für derart antiquierte Produkte?

 

Romantisch verklärte Vergangenheit

Die Antwort darauf ist eine hervorragend geölte Marketing-Maschine. Mode-Labels oder auch Möbelhäuser haben „Vintage“ zu einem verkaufsträchtigen Kampfbegriff stilisiert. Chucks von Converse, Plateau-Sneaker oder die allseits bekannten und mittlerweile oft kopierten Eames-Stühle, die in den 1950er-Jahren entstanden sind, wirken nicht altbacken, sie versprühen Retro-Chic. Die relevante Zielgruppe mag die Erfindung dieser Produkte nicht miterlebt haben – zumindest nicht bewusst – lässt sich aber entsprechend beeinflussen.

Die Erklärung ist einfach: „Jüngere Leute zeigen sich gerade deshalb empfänglich für Retro-Trends, weil der heutige Blick auf vergangene Trends und Epochen romantisch verklärt ist“, so Neurowissenschaftler Kai-Markus Müller. Hochglanzmagazine und Werbung arbeiten gezielt mit „Früher war alles besser“- Motiven, um jüngere Menschen für entsprechende Produkte zu begeistern, weil diese aus eigener Erfahrung gar nicht wissen können, dass ein geschöntes Bild projiziert werde. „Solche Trends werden dann natürlich auch von den Medien gesteuert. Wenn Influencer Vintage-Produkte im Instagram-Account anpreisen, spricht das die junge Zielgruppe natürlich an.“

Spannend ist dabei, dass die Nostalgie ordentlich Geld kostet. Die ersten Basketballschuhe der Marke Converse zum Beispiel kamen schon 1917 auf den Markt. Jahrzehntelang waren die Chucks günstige Sneaker. 2001 musste Converse Konkurs anmelden, wurde zwei Jahre später von Nike übernommen. Heute zahlt man für „günstige“ Chucks 50 Euro und mehr. Es sind Kassenschlager, obwohl wir eigentlich wissen, dass sie früher vergleichsweise billig waren. Warum? Kai-Markus Müller erklärt: „Dabei spielt die Preis-Qualitäts-Heuristik eine entscheidende Rolle. Wir nehmen einen Zusammenhang zwischen Preis und Qualität wahr. Vom Preis schließen wir unbewusst auf die Qualität eines Produktes.“ Man wisse zum Beispiel, dass Schmerzmittel besser „wirken“, wenn sie teurer verkauft werden, weil sich der Placebo-Effekt durch einen höheren Preis verstärkt. Und gerade im Mode-Bereich spielt auch ein gewisser sozialer Status mit hinein.

Millionenmarkt Retro-Games

Weniger um sozialen Status als vielmehr um pure Nostalgie geht es im Markt der Retro-Videospiele und -Konsolen. Der Game Boy zum Beispiel – den es seit 1989 gibt – ist über 30 Jahre nach seinem Erscheinen immer noch die zweiterfolgreichste Handheld-Konsole der Welt (nach dem Nintendo DS von 2004).

Dass sich die Sehnsucht nach dem guten Alten in den vergangenen Jahren enorm verstärkt hat, bestätigt auch Julian Meyn, Geschäftsführer des Online-Shops „Konsolenkost“. Konsolenkost hat es mit dem Verkauf von Retro-Konsolen und den zugehörigen Spielen auf mittlerweile über eine Million Kunden gebracht. Vor 16 Jahren startete Meyn mit seinem Freund und Geschäftspartner Sebastian Kost Konsolenkost mit dem Ziel, den „coolsten Retro-Games-Shop“ aufzubauen. „Wir haben aber auch damals schon Neuware und gebrauchte aktuelle Games und Konsolen verkauft. Der ‚Retro-Trend‘ bestand damals auch schon, auch wenn man das Gefühl hat, er hat sich in den letzten Jahren noch verstärkt.“ Dafür sorgten nicht zuletzt die Hersteller selbst. Nintendo entfachte mit den Classic-Mini-Versionen des NES und des Super Nintendo einen enormen Hype. „Gerade das SNES Mini war ein Mega-Erfolg für Nintendo und schnell vergriffen. Fans und Sammler zahlten bei Ebay und Amazon sehr hohe Preise, um die letzten verfügbaren Exemplare zu bekommen. Die Preise haben sich teilweise verdreifacht, bis Nintendo dann endlich nachliefern konnte“, erzählt Meyn. Das sei für Konsolenkost sogar ein zweischneidiges Schwert gewesen, denn es habe dafür gesorgt, dass der Umsatz mit den Original-Vorbildern der Mini-Konsolen zwischenzeitlich zurückgegangen sei.

Dies scheint allerdings verschmerzbar, denn Spielkonsolen aus den 90er-Jahren und die dazugehörigen Videospiele werden nicht nur rar, sie werden auch mit jedem Jahr teurer. „Viele der Spiele und Konsolen haben über die Jahre erheblich an Wert gewonnen. Viele Games, die damals 20 Euro wert waren, haben heute einen Marktpreis von einigen hundert Euro, wie beispielsweise SNES- und Game-Boy-Spiele mit Originalverpackung in neuwertigem Zustand. So haben wir schon Spiele für 1.500 Euro gebraucht verkauft, die früher neu 60 DM gekostet haben.“ Wer noch ein paar Spiele aus Kindheitstagen auf dem Dachboden hat, sollte also ruhig mal einen Blick riskieren.

Retro-Dauertrend

Von einem Retro-Trend zu sprechen, ist aber nur die halbe Wahrheit. „Schon in Schriften aus dem 15. und 16. Jahrhundert wird mit Nostalgie gearbeitet“, weiß Kai-Markus Müller. Der Unterschied ist der, dass der Wechsel heute viel schneller geschieht als früher. Die Schallplatte wird in zwei Jahren nicht das Mainstream-Medium der Musikindustrie sein, wird aber ihren Platz bei Liebhabern behalten. Die Musik selbst ist spätestens seit den 90er-Jahren in großen Teilen ohnehin ein Zitiermedium, das sich auf unterschiedliche Jahrzehnte rückbesinnt, je nachdem, was die Algorithmen als verkaufssteigernd zutage fördern. Vintage als Verkaufskategorie bleibt bestehen, die Inhalte aber werden an aktuelle Trends angepasst. Videospieler mit Hang zur Nostalgie müssen sich ohnehin höchstens darüber Gedanken machen, ob das alte Super Nintendo noch mit dem aktuellen OLED-Fernseher kompatibel ist. Wenn nicht, ist alles längst in den Online-Shops der Publisher verfügbar. Darum ist es am Ende auch falsch, von einem „Retro-Trend“ zu sprechen. Trends vergehen, Nostalgie bleibt generationsübergreifend bestehen. Und also (online) handelbar.


Dieser Artikel erschien ursprünglich im Onlinehändler Magazin in der Ausgabe Q4/2019. Für diese Neuveröffentlichung wurde er umfangreich überarbeitet und aktualisiert.

Über den Autor

Christoph Pech
Christoph Pech Experte für: Digital Tech

Christoph ist seit 2016 Teil des OHN-Teams. In einem früheren Leben hat er Technik getestet und hat sich deswegen nicht zweimal bitten lassen, als es um die Verantwortung der Digital-Tech-Sparte ging. Digitale Politik, Augmented Reality und smarte KIs sind seine Themen, ganz besonders, wenn Amazon, Ebay, Otto und Co. diese auch noch zu E-Commerce-Themen machen. Darüber hinaus kümmert sich Christoph um den Youtube-Kanal.

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Kommentare  

#1 gunnar 2023-02-02 08:45
schallplatten sind doch was herrliches.
da muß man wenigstens zwischendurch mal aufstehen und mit eigenen händen was bewegen.
vor allem sind die gegen vieren, magnete usw imun.
hält bei guter plege jahrhunderte ohne neuen müll zu fabrizieren.
dazu braucht man dann auch keine chips und andere dinge die selten geworden sind für die normalen retro geräte.
das ist mal echtes recycling.
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