Kommentar

Sollte Temu uns egal sein?

Veröffentlicht: 17.04.2024 | Geschrieben von: Sandra May | Letzte Aktualisierung: 17.04.2024
Frau liegt in einem Haufen von Tüten und Paketen

Seit der Markteinführung macht die App Temu regelmäßig Schlagzeilen. Wer sie noch nicht kennt: Temu ist eine Online-Shopping-App aus China, mit der man billig Produkte direkt von den Lieferanten kaufen kann. Das gleiche Konzept kennen wir schon von Wish, Alibaba und Co. Allerdings besticht Temu mit einer – im Verhältnis – außerordentlich schnellen Lieferzeit, da die Produkte nicht mit einem Containerschiff, sondern per Flugzeug um die halbe Welt transportiert werden. 

Hierzulande berichtet man seit der Markteinführung eher durchwachsen als positiv über die App. Dabei ist harsche Kritik nicht selten. Diese wiederum sorgt für verschiedene Echos: Die einen nennen sie überzogen, die anderen zeigen mit dem Finger auf Amazon, weil die es doch auch nicht besser machen würden. Und überhaupt und sowieso bekäme man doch online eh überall nur China-Schrott. Auf Amazon sind schließlich auch viele chinesische Anbieter:innen zu finden, auf Ebay sowieso. Und da sind dann doch die ganzen Dropshipper, die die Ware ohnehin nur durchreichen und ihre Gewinnmarge draufschlagen. – Puh, naja, dann sollte uns Temu also einfach egal sein – immerhin ist es einfach nur ein Anbieter mehr, oder?

Warum Temu so sch**ße billig ist

Temu selbst wirbt mit dem Slogan „Shoppen wie ein Milliardär“ und fürwahr: Scrollt man durch die App, bekommt man das Gefühl, dass man für wenig Geld einfach alles kaufen kann: Kopfhörer für vier Euro, E-Scooter für unter 100 Euro und Rucksäcke für nen Zehner. Manche Produkte sind sogar kostenlos! Das alles lockt natürlich. Warum die Preise so günstig sind, liegt an unterschiedlichen Faktoren: Man kauft direkt beim Zulieferer, die Produkte werden billig unter teilweise fragwürdigen Arbeitsbedingungen produziert und hinzukommt noch, dass Temu einen unglaublich günstigen Versand anbietet: Die Expresslieferung gibt es bereits ab 4,99 Euro. Der Standardversand ist hingegen bei „fast allen Bestellungen“ kostenfrei. Als Grund für diesen günstigen Versand wird der Weltpostvertrag genannt: Dieser ermöglicht es Unternehmen aus bestimmten Ländern Briefsendungen international zum Inlandstarif zu versenden. Damit ist Temu im Vergleich zu den Kosten, die für gewöhnlich im nationalen Versand anfallen, konkurrenzfähig. 

Und womöglich gilt auch die bekannte Datenschutzweisheit: Wenn etwas besonders günstig oder kostenlos ist, bist du möglicherweise nicht Kunde, sondern Produkt. So gibt es Spekulationen, dass bei Temu auch personenbezogene Daten mit eingepreist werden, zum Beispiel für personalisierte Werbung. Temu selbst dementiert das allerdings. Und ebenfalls interessant: Temu gehört zu Pinduoduo (PDD Holdings Inc.). Richtig, die App, die letztes Jahr durch Google gesperrt und als Malware eingestuft wurde. Die Sperre geht auf den Vorwurf, dass PDD Apps entwickeln soll, die gezielt Android-Nutzer:innen hacken und ausspähen (Quelle: t3n). 

Endlich zockt mich kein doofer Zwischenhändler mehr ab!

Ja, es gibt sie: Die unseriösen Dropshipper, die damit prahlen, Millionäre geworden zu sein, indem sie billigste China-Ware für das x-fache des Einkaufspreises verkauft haben. Aber: Die meisten Dropshipper sind seriös und hauen nicht nur ihre Gewinnmarge auf den Einkaufspreis. Es wird noch eine ganze Menge mehr mit in den eigentlichen Verkaufspreis einkalkuliert. In Deutschland wird man nun mal nicht mal eben so Online-Händler oder -Händlerin. Hier müssen so einige Regularien erfüllt werden. Verpackungslizenzierung, die Anmeldung bei der Stiftung EAR, das CE-Zeichen – all das kostet Geld, was mittels Mischkalkulation natürlich auf den Einkaufspreis draufgeschlagen wird. Die Verbraucher:innen zahlen damit zwar am Ende mehr, als sie es beim direkten Einkauf in China tun würden, unterstützen damit aber Händler:innen, die sich an die Regularien halten und bekommen in der Regel ein sicheres Produkt. 

 

Aber es produziert doch eh jeder in China!

Teure Marken lassen ihre Produkte nicht selten billig in China, Bangladesch und anderen Ländern herstellen. Und ja, mit etwas Glück bekommt man bei Temu auch genau ein solches Markenprodukt. Zumindest liest man das häufiger. Auch ich habe schon Nadeln für meine Nähmaschine bei Wish bestellt und mir fiel direkt auf: „Ja Mensch, die Verpackung sieht genauso aus, wie die meiner Markennadeln.“ Halt nur ohne Markenemblem. Ich hatte aber offenbar kein Glück: Die Nadeln taugten nix.

Was aber heißt das? Es kann sein, dass man Produkte durch Zufall beim gleichen Lieferanten bestellt, der eben auch für große Unternehmen produziert. Aber: Nur, weil etwas in der gleichen Fabrik hergestellt wird, heißt es noch lange nicht, dass am Ende das gleiche Produkt herauskommt. Das ist die gleiche Legende hinter der Aussage, dass „hinter dieser und jenen Eigenmarke diese Marke steckt“. Ja, Rewe, Edeka und Co. lassen ihre günstigen Eigenmarken von den Hersteller:innen produzieren, die auch Markenprodukte herstellen – allerdings mit eigener Rezeptur. Es sind eben doch unterschiedliche Produkte. Oder glaubt tatsächlich jemand, dass eine bekannte Marke einfach sagt: „Na klar, lass uns mein Markenprodukt noch mal zu einem Bruchteil des eigentlichen Preises verkaufen, was dann jeder total leicht herausfinden kann und unser Markenprodukt so richtig, sinnlos und unattraktiv macht.“

Kurzum: Bloß, weil die Hose, die ich für 1,99 Euro bei Temu bestelle, so aussieht, wie das Markenmodell für 100 Euro, heißt es noch lange nicht, dass das Billigprodukt aus dem gleichen Material hergestellt ist. Auch schon länger ist – beispielsweise von Shein – bekannt, dass Designs von Labels einfach mal geklaut werden. 

Es wird ja auch gerne pro Primark oder Shein argumentiert, weil man dort das Gleiche bekäme wie in herkömmlichen Läden, halt nur zum „ehrlichen Preis“. Keine Ahnung, ob ich vielleicht was falsch mache, aber während ich selbst günstige Basic-Teile von C&A, H&M und Co. mehrere Jahre trage, konnte ich meine eine Shein-Bestellung nach einer Saison in die Tonne kloppen. 

… und da ist dann noch die Sache mit der Haftung

Selbst, wenn man all die zuvor ausgeführten Punkte anders sieht, gibt es eine Sache, die sich schlecht wegdiskutieren lässt: Wer bei Temu einkauft, wird zum Importeur. Das bedeutet, Temu muss sich gar nicht darum kümmern, dass europäische Standards, wie etwa das CE-Zeichen, Schadstoffmengen oder allgemeine Anforderungen an die Produktsicherheit, eingehalten werden. Wäre ja auch schade. Da müsste man ja die Preise anheben. Für all diese Sachen ist derjenige zuständig, der die Waren in den Binnenmarkt einführt – und das sind die Verbraucher:innen. Sie kaufen direkt beim Lieferanten und müssen sich halt kümmern. Zugeben: Für den Alltag ist das eher irrelevant. Der juristische Spaß geht erst dann los, wenn man beispielsweise den Föhn an den Mitbewohner verleiht, dessen Haare dann plötzlich Feuer fangen oder wenn der Akku vom E-Scooter explodiert. 

Übertrieben? Nein, von solch ähnlichen Fällen berichteten wir bereits vor einigen Jahren im Zuge der damaligen ZDF-Zoom-Reportage „Schöne Online-Bescherung – Schnäppchenfrust aus Fernost“. Und plötzlich ist das Schnäppchen doch nicht mehr so toll, denn haften tut – richtig – der Importeur bzw. die Importeurin. Klar, jetzt könnte man beim Lieferanten Regress nehmen. Wenn man denn weiß, wer das ist. Und dann haben wir immer noch das Problem, dass der in China sitzt. Es ergibt also Sinn, dass die Produkte aus China, die man über Zwischenhändler:innen kauft, teurer sind. 

Fazit: Temu und die Doppelmoral des Billigkonsums

Temu provoziert mit seinem Geschäftsmodell eine gründliche Auseinandersetzung mit den Schattenseiten unserer globalisierten Konsumgesellschaft. Die App lockt mit Niedrigpreisen, die durch Direktvertrieb, fragwürdige Arbeitsbedingungen und subventionierte Versandkosten ermöglicht werden, und stellt damit traditionelle Handelswege in Frage. Dies wirft nicht nur Fragen zur Nachhaltigkeit und Ethik solcher Geschäftsmodelle auf, sondern auch zur Rolle der Verbraucher:innen in diesem System.

Die Bequemlichkeit und die scheinbare Kostenersparnis, die Temu bietet, kommen mit versteckten Kosten: mangelnde Produktsicherheit, fehlende regulatorische Compliance und die Übertragung der Verantwortung auf die Konsument:innen als Importeur:innen. Diese Aspekte verdeutlichen, dass billiger Konsum oft eine Illusion ist, die durch die Verlagerung von Kosten und Risiken aufrechterhalten wird.

Temu fordert uns heraus, unsere Kaufentscheidungen kritisch zu reflektieren und die langfristigen Folgen des Strebens nach dem niedrigsten Preis zu erkennen. Es geht nicht nur um individuelle Entscheidungen, sondern um das kollektive Verhalten, das letztendlich die Produktions- und Handelspraktiken weltweit beeinflusst. Temu geht uns alle etwas an, weil es die Dringlichkeit aufzeigt, Verbraucherethik in einer zunehmend vernetzten Welt zu überdenken.

„E-Commerce-Anbieter, die tagtäglich Tausende Tonnen billigst produzierter Waren um den halben Globus fliegen, blenden Themen wie den Klimawandel oder den verantwortungsvollen Umgang mit Ressourcen scheinbar komplett aus. Das ist unverantwortlich und wird auf lange Sicht nicht funktionieren“, sagte passend dazu Marc Opelt, Vorsitzender des Bereichsvorstands von Otto.

Also nein, Temu darf uns nicht egal sein.

Über die Autorin

Sandra May
Sandra May Expertin für: IT- und Strafrecht

Sandra schreibt seit September 2018 als juristische Expertin für OnlinehändlerNews. Bereits im Studium spezialisierte sie sich auf den Bereich des Wettbewerbs- und Urheberrechts. Nach dem Abschluss ihres Referendariats wagte sie den eher unklassischen Sprung in den Journalismus. Juristische Sachverhalte anschaulich und für Laien verständlich zu erklären, ist genau ihr Ding.

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Kommentare  

#4 heike tscherwinka 2024-04-18 14:19
mich würde interessieren, wer das Porto zahlt. Der chinesische Hersteller in vollem Umfang? Die Kunden zahlen ja nichts. DasPorto wird ja laut Weltpostvertrag subventioniert, weil China noch immer als Entwicklungslan d eingestuft wird. Also wer zahlt die Differenz und wie hoch ist der Betrag ? Bei immer steigenden Mengen an Paketen und steigenen Frachtraten besonders bei Versendung via Flugzeu, müßte der subventioniere Betrag ja dynamisch sein und immer weiter steigen. ... oder verstehe ich das etwas nicht. Wer bitte am Ende das Porto?
Herzlichen Dank
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#3 SIEVERT, Kerstin 2024-04-18 11:20
Jeder Kunde/In, der sich auf solche "Billig-Importe " einlässt, sollte sich auch Gedanken über die nicht im Artikel genannten Folgen machen: Um diese billigen, meist minderwertigen Artikel zu transportieren, belegt Temu soviel Kapazität im Flugverkehr, dass sich für alle anderen die Frachtkosten deutlich erhöhen - was zu noch höheren Preisen führt. Hier werden keine Steuern bezahlt, also kein Geld für Straßen, Sanierung von Schulen, Zahlung von Sozialleistunge n. Der Druck auf Produzenten hier, d.h. Europa, wächst weiter, als Folge droht Arbeitsplatzabb au. Das könnte langfristig zur Folge haben, dass wir immer abhängiger werden von der Produktion in Asien - und was das bedeutet haben wir in der Pandemie gesehen und chronisch Kranke können davon auch ein Lied singen, wenn sie dringend benötigte Medikamente nicht bekommen, weil es bei deren Produktion oder Transport um den halben Erdball zu Problemen kommt. Von den Folgen für die Umwelt/Klimawan del mal ganz zu schweigen.
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#2 Manuel 2024-04-18 08:15
Der Artikel fasst die Probleme echt perfekt zusammen! Wunderbar gelungen, herzlichen Dank!
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#1 Katja 2024-04-17 09:20
Stimmt, Elektronik und Köamotten kann man vergessen, auch Spielzeug würde ich nicht bestellen.

[Anmerkung der Redaktion: Bitte beachten sie unsere Netiquette und bleiben sie sachlich]
Da kaufe ich nun mal gewisse unbedenkliche Produkte dort. Sorry, aber der Artikel ist völlig lebensfremd und einseitig und beleuchtet Nicht warum dort Millionen Menschen bestellen müssen,
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